Gemäss dem querschnittgelähmten Basler beginnt Mobilität im Kopf

«Mobilität beginnt im Kopf»

Simon Hitzinger ist eine Frohnatur.

Den Sturz aus zwölf Meter Höhe hat Simon Hitzinger, «Hitzi», (23) wie durch ein Wunder überlebt. Trotzdem fragte er sich zunächst, ob sein Leben als Rollstuhlfahrer noch Sinn mache. Heute setzt er sich als Botschafter für die Zugänglichkeits-App «Ginto» ein. Simon hat eine Vision: Menschen mit Behinderungen die schönsten Reisen ermöglichen.

Text: Tamara Reinhard
Bilder: Richard Zihlmann / Selina Spall

Das lasen Sie in den letzten Hitzi-Storys:

Am 1. Mai 2011 nimmt Simon Hitzinger an der letzten Party vor dem Abriss des alten Basler Kinderspitals teil. Als er auf dem Balkongeländer des 2. Stocks sitzt, lehnt er sich gegen ein Banner. Doch dieser reisst und er stürzt 12 Meter in die Tiefe. Durch den Aufprall wird er zum Querschnittgelähmten. In Hitzi-Story: Teil 1 lesen Sie die Schilderung seines Unfalls. Den Weg zurück ins Leben – Rehabilitation, lesen Sie in Hitzi-Story: Teil 2. Wie Hitzi mit seinen täglichen Schmerzen umgeht, lesen Sie in im dritten Teil: Hitzi-Story: Teil 3. Dies ist der vierte und letzte Teil der Hitzi-Story.

Der unerkorene Botschafter

12.00 Uhr, der Sommer hält Einzug mit hohen Temperaturen. Der stylisch angezogene Simon, «Hitzi», sitzt lässig in seinem Rollstuhl. Beim Sonnentanken an der Seepromenade beim KKL in Luzern hält der junge Mann ein verschmitztes Lächeln bereit. Kein Wunder zieht er alle Blicke auf sich, bei dieser Ausstrahlung. Daher ist es auch wenig erstaunlich, dass er einst gute Chancen auf den Titel «Mr. Handicap» im Jahr 2014 hatte. Warum nahm er an der Wahl teil?

«Ich wollte etwas bewirken.» Bei dieser Wahl wird man für ein Jahr zum Botschafter für Menschen mit Behinderungen erkoren. Der Gewinner hat die Vorgabe, ein eigenes Projekt auf die Beine zu stellen. Welches Projekt hätte Hitzi umgesetzt? «Ich wäre in jede grössere Stadt gegangen, um lokale Politiker darum zu bitten, sich in einen Rollstuhl zu setzen.»

Der Querschnittgelähmte Simon Hitzinger hält das Steuer in den Händen. Sein Kurs: Reisemöglichkeiten für alle aufzeigen

Simon Hitzinger hält das Steuer in den Händen. Sein Kurs: Reisemöglichkeiten für alle aufzeigen.

Auf Missstände aufmerksam machen

«Personen, die wichtige Entscheidungen für Menschen mit Behinderungen treffen, kennen häufig nicht die Meinung der Betroffenen. Wie kann da ein qualitativ gutes Resultat erzielt werden? Sich für zwei Stunden mit Rollstuhl und Randsteinen auseinandersetzen kann nicht zu viel verlangt sein.» Zu steile Trottoir-Randsteine sind Hindernisse für Rollstuhlfahrer, aber auch z. B. Personen mit einem Rollator haben Probleme, diese sicher zu begehen. «Bauten oder Strassen sind oft ungenügend durchdacht gebaut und hindern Menschen mit Einschränkungen daran, diese zu betreten», erklärt Hitzi.

Hitzi hat die Wahl zum Mr. Handicap nicht gewonnen. Braucht er denn einen solchen Titel, um sein Vorhaben umzusetzen? «Nein. Zu Beginn ist der Medienfokus sicherlich grösser, wenn man als Mr. Handicap unterwegs ist.» Jedoch ist Hitzi keiner, der aufgibt. Regelmässig thematisiert er in Interviews die Missstände, die für Querschnittgelähmte bei Bahnhöfen, Gehsteigen und Bauten existieren. «Es ist ein Kampf, Politiker an den Tisch zu bringen.» In Basel ist er schon lange daran, leider ohne Erfolg.

 

Zum Zeitpunkt des Unfalls war Hitzi Gönnermitglied der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. «Ich wusste nicht einmal, dass meine Eltern eine Familienmitgliedschaft hatten».

Die umstrittene Barrierefreiheit

Wie umständlich ist das Reisen für Querschnittgelähmte? «Es geht uns nicht schlecht in der Schweiz. Aber ich denke, dass bei der Bauplanung von öffentlichen Einrichtungen die Barrierefreiheit oft zu kurz kommt. Die finanziellen Mittel könnten von Anfang an besser eingesetzt werden, statt im Nachhinein zu korrigieren. Beispielsweise gibt es in Basel neue niederflurige Trams, doch die Lücke zwischen Gehsteig und Tram ist oftmals zu gross. Nur eine von Hand ausklappbare Rampe verschafft Abhilfe.»

Hitzi’s proaktive Art verschafft ihm Gehör. Die barrierefreie Gestaltung der Bahnhöfe liegt ihm am Herzen. Darum hat er sich mit Vertretern der SBB zusammengesetzt, um den Stand des im Jahr 2002 in Kraft getretenen «Behindertengleichstellungsgesetzes» zu besprechen. Gemäss Artikel 22 verlangt das Gesetz von Transportunternehmen: Bestehende Bauten und Anlagen sowie Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr müssen spätestens nach 20 Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht sein. «Die Verantwortlichen der SBB selbst sagten zu mir, dieses Ziel würden sie nicht erreichen. Trotzdem haben sie in ihrem Video dafür geworben, dass bis 2022 alle Bahnhöfe behindertengerecht umgebaut seien, anstatt die Wahrheit zu sagen. Tatsächlich werden gewisse Bahnhöfe geschlossen, anstatt sie umzubauen.»

Mobilität als Herausforderung

Hitzi schaut zufrieden auf den See. «Ohne Sonne könnte ich nicht Leben.» Wie steht es somit um Sommerferien? Geplant ist ein Road Trip durch die Südstaaten der USA mit einem Freund.» Ein Unterfangen, das nicht einfach erscheint. «Im Gegenteil, in Miami beispielsweise sind viele Hotels und Restaurants rollstuhlgängig ausgebaut.» Hitzi schaut selber die Routen nach, wohin er reisen kann, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein oder tauscht sich mit anderen aus. «Ich bin relativ selbstständig. Aber es gibt auch solche, die mehr Mühe haben.» Trotzdem stört es ihn, jede kleinere oder grössere Reise genauestens planen zu müssen.

Der Rollstuhlfahrer besucht eine Veranstaltung mit rotem Teppich.
Der Rollstuhlfahrer setzt sich ein für Betroffene.

Von und für Menschen mit Einschränkungen

Zum Zeitpunkt des Unfalls war der 17-jährige Hitzi Gönnermitglied der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. «Ich wusste nicht einmal, dass meine Eltern eine Familienmitgliedschaft hatten». Hitzi erhielt CHF 200 000 Gönnerunterstützung ausbezahlt, da er querschnittgelähmt wurde und permanent auf den Rollstuhl angewiesen ist. Was er mit dem Geld macht, steht ihm frei. Viele nutzen das Geld, um ihr Fahrzeug oder die Wohnung umzubauen, um die hohen Folgekosten einer Querschnittlähmung decken zu können.

Der reisefreudige Hitzi setzte einen Teil der Gönnerunterstützung für sein erstes Projekt «Anyway Travelling» ein, das er 2017 lancierte. «Gerade weil so ein grosser Planungsbedarf beim Reisen im In- und Ausland besteht, arbeite ich an einem Online-Portal von und für Querschnittgelähmte und anderen körperlich beeinträchtigen Personen. Nur Erfahrungsberichte von Betroffenen sind verlässlich, ob der Ort oder das Hotel wirklich behindertengerecht ist.» Es existieren schon einige Portale, jedoch sind die oftmals nicht mehr aktuell und unübersichtlich. Trotzdem testete Simon weiterhin einige Apps und stiess kürzlich auf die Zugänglichkeits-App «Ginto». Er war sofort von dieser Lösung angetan. So kam es zur Migration seines Projekts mit der Ginto-App. Simon ist oft als Botschafter für die App unterwegs. Beim Erfassungsevent in Basel wurde Hitzi vom SRF 10vor10 begleitet. Mit vereinten Kräften soll die Ginto-App keine der altbekannten Mängel aufweisen, da es von und für Betroffene ist.

Trotz Querschnittlähmung fand Hitzi den Weg zurück ins Leben und setzt sich sogar für andere ein. Mit seiner charmanten Art vermittelt er Themen von Querschnittgelähmten einfach und doch direkt. Er weiss, was er will: «Mit dieser Plattform will ich uns allen Mobilität ermöglichen.» Auf seinem Road Trip im Sommer wird er erste Hotels auf ihre Barrierefreiheit testen. Die Lust am Leben verliert Hitzi garantiert nicht. Dazu hat der unerkorene Botschafter zu viele gute Ideen, für die er kämpft.

 

Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt.

Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z.B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Werden Sie deshalb Mitglied der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung um im Ernstfall 250 000 Franken zu erhalten.

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