Der inkomplette Paraplegiker fliegt auch nach seinem Gleitschirmabsturz weiter

«Ich bin glücklicher, als vor dem Unfall»

Stefan Keller wurde durch einen Flugabsturz querschnittgelähmt. Trotz Paraplegie fing er wieder an zu fliegen.

Im Juni 2017 erzählte uns Stefan Keller (54) von seinem Vorhaben, als Querschnittgelähmter die Schweizer Alpen mit Rollstuhl und Gleitschirm zu durchqueren. Dieses Mal trafen wir ihn im Schweizer Paraplegiker-Zentrum an, wo er sich von einer Schulteroperation erholt. Was hat die Alpen-Challenge ihm bewiesen und wie erlebt er die Zeit in Nottwil?

Text: Tamara Reinhard
Bilder: Stefan Keller

Lesen Sie hier den ersten Teil von Stefan Keller: «Mein Unglück ist meine Lebensaufgabe»

Es herrscht vorweihnachtliche Stimmung in der Eingangshalle des Schweizer Paraplegiker-Zenturms (SPZ): Der grosse Christbaum und die festlichen Kränze verbreiten Heiterkeit. Ich treffe Stefan Keller (54), der sein Esstablett von der Pflegestation mitgebracht hat, zum gemeinsamen Mittagessen. Stefans rechte Schulter wurde im SPZ operiert und liegt im Gips, weshalb er ausnahmsweise einen elektrischen Rollstuhl fährt. Geschickt bedient er den Joystick des Rollstuhls bis er mit der Position am Tisch zufrieden ist. «Mir geht es gut, ich komme schon zurecht», grinst er und fängt an, einhändig zu essen.

Zuhause in Nottwil

Stefan hat vor dem Einzug ins SPZ seine Wohnung gekündigt. «Ich überwintere quasi in Nottwil», lacht er. Die Schulter-OP und die Re-Reha machten einen längeren Aufenthalt im SPZ notwendig. «Ich fühle mich wie zuhause, hier habe ich schliesslich mein zweites Leben mal begonnen. Die Ärzte und das Pflegepersonal leisten nach wie vor einen hervorragenden Job.» Stefans erste Rehabilitation vor vier Jahren dauerte sechs Monate. Damals hielt er sich auch über Weihnachten im SPZ auf. «Das ist nicht zu vergleichen. Nachdem Unfall bist du noch ganz stark mit dir selbst beschäftigt.» Nachdenklich schaut er zum Parikarus, dem fliegenden Rollstuhl, der an der Decke der Empfangshalle des SPZ hängt. Stefan ist Gleitschirmfluglehrer und wurde 2013 durch einen schweren Flugunfall querschnittgelähmt.

Der Rollstuhlfahrer während seiner Rollstuhl-Challenge
Stefan geniesst das Leben trotz Rollstuhl. Er macht sein Unglück zur Lebensaufgabe und will Fussgängern sowie Betroffenen helfen.

Das Leben im Rollstuhl

Als inkompletter Paraplegiker kann Stefan seine Beine noch bewegen, verspürt aber auch dauernd Schmerzen. Kurze Strecken kann er noch laufen, wird aber ein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen sein. Er hat damit kein Problem: «Der Rollstuhl gibt mir die Möglichkeit, mein Leben komplett selbstständig zu meistern. Dafür bin ich dankbar, trotz Nonstop-Schmerzen.» Während dem Essen grüssen ihn einige Mitarbeiter und Patienten. «Ja, man kennt mich hier», lacht er. Derzeit befinden sich vier andere Personen im SPZ, die durch einen Fliegerunfall querschnittgelähmt wurden. Stefan verbringt fast täglich Zeit mit ihnen. «Mein Ziel ist es, sie bei ihrer Erstrehabilitation mental zu unterstützen und zu sagen: Hey, im Rollstuhl zu sitzen, bedeutet nicht das Ende vom Leben.»

 

«Ich bin glücklicher, als vor dem Unfall, weil ich nun mein Leben noch besser gestalte».

Stefan und die Fliegerei

Stefan wusste schon als Kind, dass er fliegen will. Aus dem jungen Flugtalent wurde später ein passionierter Gleitschirmfluglehrer der «keine Ausbildung im Schnelldurchgang» anbietet. Er verlangt von den Schülern sich genügend Zeit für den Unterricht einzuplanen. Im seinem Schulprogramm war der Besuch beim Schweizer Paraplegiker-Zentrum ein fester Bestandteil. «Beim Fliegen musst du stets wissen: Auch wenn du die besten Sicherheitsvorkehrungen triffst, Mutter Natur wird diese nicht beachten.»

Ebenso wurde in seiner Flugschule «FLUSO» Gleichberechtigung gross geschrieben. Nicht nur Fussgänger, sondern auch Menschen mit Behinderungen wie z. B. Querschnittgelähmte hat er unterrichtet. Stefan erzählt von seinem Freund Simon Baumgartner, der mit seiner Fussdeformation (ugs. «Klumpfüssen») noch nie in seinem Leben konstant eine Sportart ausüben konnte. Das Gleitschirmfliegen ermöglicht Simon genau dies. Stefan meint: «Die Fliegerei macht Simon so glücklich und beweist, wie unbehindert wir doch alle sind, wenn wir Möglichkeiten ausbauen.»

Der inkomplette Paraplegiker mit Kollegen bei seiner Rollstuhl-Challange

Stefan mit Simon Baumgartner und Nathalie Saj, nahe Kollegen, die ihn während seiner «Alpenüberquerung: Stefan’s Rollstuhl-Challenge» unterstützten.

Jetzt freier und glücklicher

Doch wie ist es ihm ergangen, als er selbst durch einen Unfall querschnittgelähmt wurde? Am 26. Juni 2013 ist Stefan seinen Schülern vorausgeflogen, als ihn eine turbulente Thermik aus 20 Meter erfasst und zu Boden reisst. Knapp am Tod vorbei, wacht er später im Berner Inselspital auf. Erst als sein Zustand genug stabil ist, wird er ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum verlegt, da inkomplette Paraplegie festgestellt wurde. «Es war ein harter Weg zurück. Doch ich wusste stets, ich will lieber ein zweites Leben beginnen, als dem alten nachzutrauern.» Stefan sah sein Überleben als ein Muss, seinem Leben ab jetzt noch mehr Sinn zu geben: «Ich bin glücklicher, als vor dem Unfall, weil ich nun mein Leben noch besser gestalte». Darum stand für ihn auch nie zur Debatte, die Fliegerei aufzugeben. Wie erlebte er den ersten Flug als Rollstuhlfahrer? «Ich habe mich freier und glücklicher gefühlt, als je zuvor. Weil mir gerade so viel geblieben ist, dass ich noch immer das tun kann, was mir am meisten Freude im Leben bereitet.»

 

«Jeder Mensch sollte sich in seinem eigenen Tun nicht limitieren lassen, sondern versuchen, das zu tun, was ihn wirklich glücklich macht.»

Eigene Grenzen sprengen

Diesen Sommer wollte Stefan seine körperlichen Grenzen austesten und führte die «Alpenüberquerung: Stefan’s Rollstuhl-Challenge» durch. Das Ziel war innert vier Tagen von der Alp Scheidegg im Zürcher Oberland (ZH) zum alten Flugplatz in Ascona (TI) zu fliegen. Warum hat er das gemacht? «Ich wollte auch als Rollstuhlfahrer meine Komfortzone verlassen. Wenn ich das nicht tue, weiss ich ja gar nicht, zu was ich noch alles fähig bin im Leben.» Er sieht es als seine Aufgabe, Betroffenen und Fussgängern aufzuzeigen, dass niemand «behindert» ist. Stefan zeigt eine Weihnachtskarte von Simon Baumgartner, der voller Stolz seinen Gleitschirm hält, weil er zum ersten Mal trotz Behinderung Spass an Sport hat. «Jeder Mensch sollte sich in seinem eigenen Tun nicht limitieren lassen, sondern versuchen, das zu tun, was ihn wirklich glücklich macht.»

 

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Traurig, aber wahr: Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt. Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z.B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Damit Betroffene nicht zusätzlich von Geldsorgen geplagt werden, erhalten Mitglieder bei einer unfallbedingten Querschnittlähmung mit permanenter Rollstuhlabhängigkeit eine einmalige Zahlung von CHF 250 000.–.

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