

Alexandra Helbling kam in Sri Lanka zur Welt und ist in der Schweiz aufgewachsen. Seit 25 Jahren ist sie querschnittgelähmt – und würde ihr Leben nicht gegen ein anderes tauschen. Im Rennrollstuhl vergisst sie alles um sich herum.
Text: Peter Birrer
Bilder: Walter Eggenberger
Irgendetwas stimmt nicht mit dem Kind. Es liegt hilflos im Krankenbett, die Beine fühlen sich seltsam an, auch noch Tage nach dem Unglück. Die Mutter ist zutiefst beunruhigt. Im Spital sagt man ihr, das Mädchen habe einen schweren Schock erlitten. Und: «Das kommt schon wieder.»
Alexandra Helbling sitzt daheim am Stubentisch im luzernischen Pfeffikon und erzählt: «Leider ist es anders gekommen.» Ihre Beine kann sie seither nicht mehr bewegen. Ein Autounfall hat ihr Rückenmark gequetscht und sie zur inkompletten Paraplegikerin gemacht. Rasch fügt die 32-Jährige hinzu: «Ich möchte mein Leben aber nicht gegen ein anderes tauschen. Es ist okay, wie es ist.» Sie sagt es überzeugt und mit einem feinen Lächeln. Ihre Dackeldame Oana bellt lange und laut, bevor sie zufrieden durchs Wohnzimmer watschelt.
Der verhängnisvolle 3. Juni 2000
Alexandra Helbling kommt in Sri Lanka zur Welt und verbringt die ersten sechs Wochen ihres Lebens in einem Kinderheim, bevor ein Schweizer Paar sie adoptiert. Chathurika, wie sie getauft ist, erhält einen zweiten Namen und ein neues Zuhause. In Azmoos, einem kleinen Dorf an der Grenze zu Liechtenstein, wächst sie zusammen mit ihrer Adoptivschwester auf, die ebenfalls in Sri Lanka geboren wurde.
Am 3. Juni 2000 sitzen die zwei auf der Rückbank des Autos, das Rosmarie Helbling steuert. Bei Walenstadt geschieht der verhängnisvolle Unfall, bei dem sich das Fahrzeug überschlägt. Eine junge Frau zieht die beiden Kinder aus dem Wagen. Die Mutter kann sich trotz eines Schlüsselbeinbruchs selbst befreien. Ihre Schwester kommt ohne ernsthafte Blessuren davon, doch Alexandra wird mit aufgeblähtem Bauch und Magenschmerzen ins Spital Walenstadt gebracht. Das Ausmass der Verletzung kommt erst im Kinderspital St. Gallen zum Vorschein: eine Querschnittlähmung.
Für Rosmarie Helbling bricht eine Welt zusammen. Das fröhliche Mädchen, das am liebsten jeden Meter rennend zurücklegt und regelmässig mit aufgeschürften Knien nach Hause kommt, wird nicht mehr mit ihren «Gschpänli» herumtollen können. Es muss sich auf ein Leben im Rollstuhl einstellen. «Diese Vorstellung war für mich schrecklich», sagt die Mutter.

Der Rollstuhl als «cooles Spielzeug»
Für die Tochter hingegen scheint alles halb so wild zu sein. Sie findet es «cool», sich auf zwei Rädern fortzubewegen: «Der Rollstuhl war wie ein Spielzeug», sagt sie. Ihre Rückenmarkverletzung wird im Rehazentrum Valens mit verschiedenen Therapien behandelt, eine monatelange ganzheitliche Rehabilitation bekommt sie nicht. Beklagt hat sie sich nicht über ihr Schicksal. Was Querschnittlähmung aber wirklich bedeutet, realisiert sie erst später – das erste Mal in der Primarschule.
«Ich bin nicht behindert, ich kann nur nicht laufen.»
Die Gemeinde sieht keinen Grund, für ein einzelnes Kind das Schulhaus barrierefrei zu gestalten. Alexandra Helbling muss selber schauen, wie sie ins Klassenzimmer im ersten Stock gelangt. Oft kriecht sie die Treppe hoch und runter, oder die Eltern helfen ihr, manchmal trägt sie der Abwart. An einem Sportanlass im August 2025 schildert sie anderen Betroffenen, wie die Lehrer ihr damals die Unterstützung verweigerten. Die Bestürzung ist gross.
Immer wieder hört sie von fremden Menschen verletzende Bemerkungen wegen ihrer Beeinträchtigung. Zum Beispiel: «Wieso musst du nicht in die Sonderschule?» Eine Frage wie eine Ohrfeige. Doch solche Situationen meistert sie souverän. Beleidigende Worte lässt sie an sich abprallen. Und wenn es einmal zu heftig wird, steht ihre grosse Schwester unerschrocken für sie ein. Sie erträgt es nicht, wenn Alexandra verbal angegangen wird.
«Hier oben ist alles in Ordnung»
Wenn sie an solche Situationen zurückdenkt, zuckt Alexandra Helbling mit den Schultern: «Es war halt so.» Sie fühle sich nicht anders als andere. Einen Satz macht sie früh zu ihrem Lebensmotto: «Ich bin nicht behindert, ich kann nur nicht laufen.» Sie tippt sich mit dem Zeigefinger an den Kopf: «Hier oben ist alles in Ordnung.»
Ihr Glück ist es, dass sie mit ihren Eltern in den Herbstferien 2003 nach Tenero fährt und auf der Sportanlage unweit des Campingplatzes einen Rollstuhlathleten sieht. Sie ist fasziniert, wie er Runde um Runde dreht: elegant, schnell, scheinbar mühelos. Sein Name sagt ihr nichts – es handelt sich um den jungen Marcel Hug, der noch ganz am Anfang seiner Karriere als Ausnahmesportler steht.
Der Zufall will es, dass sie Marcel Hug später an einem Anlass in der Ostschweiz kennenlernt und die Gelegenheit erhält, sich in einen Rennrollstuhl zu setzen. Es ist der Moment, in dem die Rollstuhlsportlerin Alexandra Helbling geboren wird. Sie wechselt an die Sportschule Gams, an der sie keine Hürden mehr überwinden muss: «Das war wie eine Erlösung für mich.»


Wenn sie gähnt, ist sie bereit
Als Leichtathletin findet sie ihr sportliches Zentrum in Nottwil. Dreimal pro Woche chauffiert Rosmarie Helbling sie von Azmoos an den Sempachersee ins Training. 2011 verlegen die beiden ihren Wohnsitz in die Zentralschweiz, um die Sportkarriere in optimaler Umgebung weiter zu forcieren. Alexandra Helbling profitiert von einer optimalen Infrastruktur mit Sportarena und Trainingscenter sowie der Nähe zur Sportmedizin des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) und zur Gruppenfirma Orthotec, die auch Expertin für Rennrollstühle ist. Zudem kann sie ihre Lehre zur kaufmännischen Angestellten ideal mit dem Training kombinieren: Das Praktikumsjahr absolviert sie in der Patientenadministration des SPZ.
Im Rennrollstuhl vergisst sie alles um sich herum. Sie bewegt sich in einer eigenen Welt, in der sie temporeich unterwegs ist und Grenzen verschieben kann. Was sie leistet, ist messbar. Wobei sie vor einem Start Zuschauende irritiert – indem sie gähnt. Das ist kein Ausdruck von Langeweile, im Gegenteil: «Dann weiss ich: Die Nervosität ist verflogen. Ich bin bereit.»
Emotionen an den Paralympics
2012 qualifiziert sie sich für die Paralympics in London. An der Eröffnungsfeier rollt sie mit der Schweizer Delegation in das mit über 60 000 Menschen gefüllte Olympiastadion, ihr Herz rast. Die paralympicserprobte Manuela Schär sagt ihr: «Geniess einfach die Atmosphäre. Man weiss nie, wann es so etwas wieder gibt.» Alexandra Helbling ist überwältigt von den Emotionen – und denkt sich: Jetzt bin ich in der Elite angekommen.
Während der Spiele teilt sie das Zimmer mit der international erfahrenen Edith Wolf-Hunkeler, die ihre letzten Paralympics als Aktive erlebt. «Wir haben viel zusammen gelacht», sagt die heute 53-Jährige. «Alexandra war so unbeschwert, so erfrischend. Es war für mich bereichernd, mit ihr zusammen zu sein.»

Alexandra Helbling kämpft an den Paralympics in Paris 2024 im 100-m-Final. (© Tobias Lackner)
Edith Wolf-Hunkelers junge Kollegin liebt die Sprintdisziplinen, absolviert aber auch Wettkämpfe über die Mittelstrecke und findet in der Schweizer Szene genügend Vorbilder. Ein Finne imponiert ihr aber ganz besonders: Leo-Pekka Tähti, mehrfacher Paralympics-Gewinner über 100 Meter und jahrelang unschlagbar.
Vom Rückschlag zur Europameisterin
Die junge Sportlerin muss auch Rückschläge wegstecken. Für die Paralympics in Rio de Janeiro 2016 und Tokio 2021 wird sie trotz erfüllter Zeitlimiten nicht selektioniert. Das nagt an ihr und Tränen fliessen, weil sie die Nichtberücksichtigung als persönliche Niederlage empfindet. Sie sagt: «Ich spielte mit dem Gedanken, aufzuhören und etwas Neues zu machen.»
Ihr Ehrgeiz lässt das allerdings nicht zu. Nichts ist ihr wichtiger als der Sport. Das ist ihr Anker. Ihr Leben. Und wenn sie einmal denkt, dass sie die Kraft nicht mehr aufbringt, muntert Rosmarie Helbling sie auf. Die beiden sind eng verbunden, und bleiben es auch, als Alexandra in ihre erste eigene Wohnung zieht und als kaufmännische Angestellte an verschiedenen Orten arbeitet. Derzeit leben sie wieder zusammen und bilden, wie sie sagen, «eine Wohngemeinschaft».
«Ich habe durch den Sport wunderbare Bekanntschaften gemacht und wertvolle Freunde gewonnen.»
Alexandra Helbling erlebt zwischen 2016 und 2021 aber nicht nur Enttäuschungen. 2018 feiert sie ihren grössten Erfolg mit dem EM-Titel über 400 Meter in Berlin. Dort holt sie zudem viermal Silber. Ihr Trainer Paul Odermatt ist überzeugt, dass sie bei internationalen Wettbewerben regelmässig in die Finalrennen vorstossen kann. Nationaltrainer Jani Westerlund sieht es ähnlich. «Alexandras Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft», sagt er. «Wenn sie ihre disziplinierte Art beibehält, wird sie weitere Fortschritte erzielen.» An Eifer mangelt es ihr nicht. Drei bis vier Stunden trainiert sie täglich – wenn sie nicht mit einer Verletzung kämpft.
«Wir sind wie Schwestern»
Dem Sport verdankt sie auch eine tiefe Freundschaft. 2018 lernte sie in einem Trainingslager in Südafrika Anita Scherrer kennen, eine Athletin aus dem Berner Seeland. Die zwei verfolgen dieselben Interessen, trainieren gelegentlich zusammen und kennen keine Geheimnisse voreinander.
«Wir sind wie Schwestern geworden», sagt Anita Scherrer. Praktisch täglich telefonieren sie, oft am Abend und meistens ausführlich. «Alexandra ist für mich ein Herzensmensch, eine feinfühlige, ehrliche Freundin, der ich alles anvertrauen kann – und eine gute Zuhörerin.»
Wenn Alexandra Helbling betont, zufrieden zu sein und dass sie sich kein anderes Leben wünsche, hat das viel mit dem Sport und mit Menschen wie Anita Scherrer zu tun. «Ich habe wunderbare Bekanntschaften gemacht und wertvolle Freunde gewonnen», sagt sie. «Und der Sport gibt mir die Möglichkeit, so vieles von der Welt zu sehen, wovon ich als Fussgängerin wohl nur träumen könnte.»

Das grosse Ziel: Los Angeles 2028
Eine Abwechslung zum Sport findet die Athletin, wenn sie am Montagmorgen mit Oana die Hundeschule besucht. Sie liebt es auch, mit Freunden Videospiele zu spielen, als passionierte Leserin in einer Buchhandlung zu stöbern und sich stundenlang in ein Buch zu vertiefen. Und beruflich schlägt sie einen neuen Weg ein: Seit September macht sie eine Ausbildung zur Arztsekretärin.
Was den Sport angeht, ordnet sie alles dem Fernziel 2028 unter, den Paralympics in Los Angeles. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich nicht davon abbringen. «Ich lasse nicht locker», verspricht sie mit einem Funkeln in den Augen – und fährt mit der Hand zärtlich über den Kopf von Oana. Die feurige Dackeldame schläft gerade zufrieden in ihrem Körbchen.
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