Er schaut nicht in den Rückspiegel
Markus Böni kam mit Spina bifida zur Welt, einem «offenen Rücken». Heute ist er inkompletter Tetraplegiker. Die Lähmung schreitet voran, aber die Lust am Leben lässt sich der 55-Jährige nicht nehmen. Im Gegenteil.
Text: Peter Birrer
Fotos: Adrian Baer, zVg
Was ist nur los mit den Füssen? Plötzlich spürt er sie nicht mehr, hat die Kontrolle über sie verloren. Manchmal kehrt das Gefühl zurück, dann kann er zwischen kalt und warm unterscheiden. Aber dieser «Wackelkontakt», wie er es nennt, beunruhigt ihn.
Es ist ein trister Tag im Dezember 2003, als Markus Böni zu einem Gespräch mit der Neurologin im Kantonsspital Münsterlingen TG fährt. Ihm schiessen viele Gedanken durch den Kopf, auch die Befürchtung, dass etwas Unschönes zum Vorschein kommt.
Seine Frau Evelyn begleitet ihn, aber den Termin möchte Markus Böni allein wahrnehmen. Als er zurückkehrt ins Auto, schweigt er und schaut hinaus auf den Bodensee. Er braucht ein paar Minuten, bis er formulieren kann, was die Ärztin ihm mitgeteilt hat: «In zehn Jahren sitzen Sie im Rollstuhl.»
«Hört das irgendwann auf?»
Zwanzig Jahre später steht Evelyn Böni in Romanshorn TG am Schiffsteg neben ihrem Mann. Er lebt heute mit inkompletter Tetraplegie und sagt: «Mir hat es damals den Boden unter den Füssen weggezogen.» Die medizinische Prognose ist eingetroffen. Markus Böni ist seit zehn Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Einzelne Finger sind taub, die Kraft in den Armen nimmt ab, die Lähmung steigt langsam den Körper hoch. Der 55-Jährige fragt sich manchmal: «Hört das irgendwann einmal auf?»
Lange mag er sich damit allerdings nie auseinandersetzen, er weiss, dass es keine Antwort gibt. «Ich will mir keine Sorgen auf Vorrat machen», sagt er. «Ich habe es akzeptiert, dass sich mein Körper seit 55 Jahren ständig verändert.» Er verschwendet seine nicht Zeit für Dinge, die er nicht beeinflussen kann.
Am 9. Februar 1969 kommt er mit Spina bifida zur Welt. Kurz nach der Geburt wird der offene Rücken in zwei Operationen verschlossen. Markus Böni kann laufen. «Zwar nicht besonders rund wegen meines Beckenschiefstands», sagt er, «doch es klappte gut. Ich empfand das nicht als grossen Nachteil gegenüber den anderen Kindern.»
Ein Metallstab im Rücken
Allerdings verursacht eine Verkrümmung der Wirbelsäule gravierende Lungenprobleme. Im Alter von zehn Jahren wird ihm daher ein Metallstab implantiert, um den Rücken zu stabilisieren. Markus Böni, der in Eschenbach SG aufwächst, verbringt einige Monate im Spital und muss wieder lernen, aufrecht zu gehen.
Er absolviert eine Lehre als Vermessungszeichner, arbeitet im Bündnerland, bildet sich zum Geoinformatiker weiter und lernt Evelyn kennen. Er zieht zu ihr nach Romanshorn TG. Die beiden heiraten 1996 und werden zwei Jahre später Eltern von Flurin, das Glück ist perfekt. War da etwas mit dem Rücken? Er verdrängt es. Die Lust am Leben ist stärker als jeder Zweifel.
Markus Böni ist mit Tempo unterwegs. Er liebt seinen Beruf, seine Familie, das Fotografieren. Eishockey ist seine sportliche Leidenschaft, als Zuschauer in der Halle der Rapperswil-Jona Lakers oder als Beobachter der NHL, der nordamerikanischen Hockey League. Es kommt vor, dass er mitten in der Nacht aufsteht, um Spiele am TV zu verfolgen.
Seltsames Erlebnis auf der Autobahn
Auf einmal mischen sich seltsame Vorgänge in den unbeschwerten Alltag. Als Markus Böni einmal von der Arbeit nach Hause fährt, verpasst er auf der Autobahn eine Ausfahrt, die Befehle des Gehirns kommen einfach nicht in seinem rechten Bein an. Er muss mit der Hand nachhelfen, um den Fuss vom Gaspedal zu nehmen. Das löst Ängste aus: Was passiert da? Habe ich geschlafen? Er hat Glück und kann ein paar Minuten später sein Bein wieder bewegen.
Doch ihn belastet das Erlebte. Bald geschieht ein zweiter Vorfall.Er möchte parkieren, bringt erneut den Fuss nicht vom Pedal und fährt gegen einen Pfosten. Das ist für ihn ein Alarmzeichen: Er braucht eine medizinische Abklärung der Aussetzer. Nach mehreren Untersuchungen landet er im Kantonsspital St.Gallen, wo eine Myelographie durchgeführt wird, ein bildgebendes Verfahren an der Wirbelsäule.
Es ist an jenem trüben Dezembertag 2003, als er das Ergebnis von seiner Neurologin erfährt. Das Rückenmark wurde über die Jahre durch die hohe Belastung beschädigt. Ob sich das operativ korrigieren lasse? Keine Chance, heisst es. Damit gibt er sich aber nicht zufrieden. Eine Zweitmeinung aus dem Universitätsspital Zürich sagt, dass man vielleicht etwas machen könne, allerdings sei der Eingriff mit hohen Risiken behaftet und die Ausfallzeit dauere 18 Monate. Mindestens.
Markus Böni macht sich nichts vor. Er weiss, dass sich sein Zustand verschlechtern wird. Trotzdem verzichtet er auf eine Operation, nicht zuletzt aus Rücksicht auf seine Familie: «Ich wollte sie nicht im Stich lassen.»
Das eingebrannte Bild
Das verletzte Rückenmark macht ihn zum inkompletten Paraplegiker. Aber er wehrt sich gegen den Rollstuhl. Er benutzt Krücken oder greift nach stabilen Möbeln, um sich durch die Wohnung zu hangeln. Doch die Kraft schwindet, bis er einsehen muss, dass er sich nicht länger gegen das Schicksal auflehnen kann. Markus Böni kommt in Zihlschlacht in eine Klinik für neurologische Rehabilitation, und bei seiner Frau Evelyn hat sich ein Bild eingebrannt: Beim ersten Besuch betritt sie das Zimmer und sieht ihren Mann am Fenster – im Rollstuhl.
Was die Moral angeht, macht sie sich um ihren Mann keine Sorgen. Markus Böni schaut nicht in den Rückspiegel, sondern nimmt die Situation als sportlichen Wettkampf, den er gewinnen will. Er sagt: «Ich sah es als meine Aufgabe an, mich in der ungewohnten Situation zurechtzufinden und die Welt auf eine neue Art kennenzulernen.»
Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil findet er eine neue berufliche Herausforderung: Der frühere Geoinformatiker wird Leiter der Fachstelle Inklusion bei Pro Infirmis Ostschweiz. Bei der Dachorganisation für Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen engagiert er sich in seinem Gebiet für Barrierefreiheit, Partizipation, berufliche Integration und Sport. Wo immer sich die Gelegenheit bietet, weist er auf die Bedürfnisse der betroffenen Menschen hin.
Inklusion als Herzensangelegenheit
Kein Aufwand ist ihm zu gross, wenn es um die Sensibilisierung der Öffentlichkeit geht. Themen wie Partizipation und Inklusion sind für ihn Herzensangelegenheiten. Seine hohen Ansprüche fasst Markus Böni in einem Satz zusammen: «Ich möchte die Welt verändern.» Gelungen ist ihm einiges. Aber er betont: «Ich bin noch lange nicht am Ziel.»
Seit Anfang November 2023 bearbeitet er in einem 50-Prozent-Pensum als Geschäftsführer bei «Zugang für alle» ein neues Feld. Die Stiftung mit Sitz in Zürich gilt als Kompetenzzentrum und Schweizer Zertifizierungsstelle für digitale Barrierefreiheit. Es prüft etwa, ob Webauftritte und Handy-Apps den internationalen Standards entsprechen und tatsächlich sprechen und tatsächlich der Zugang zu den digitalen Informationen gewährt ist.
Unermüdlich geht Markus Böni voran, obwohl seine Feinmotorik stetig abnimmt und er mittlerweile als inkompletter Tetraplegiker gilt. Er beweist immer wieder, dass sich auch in dieser Verfassung Grenzen verschieben lassen.
2016 bietet sich die Möglichkeit, nochmals nach Kanada zu reisen, als Sohn Flurin in Montreal und Toronto einen Sprachaufenthalt absolviert. Er bricht allein auf, weil seine Frau nicht gerne fliegt. Die Ferien werden ein wunderbares Abenteuer. Vater und Sohn besuchen Eishockeyspiele der NHL und entdecken Sledge-Hockey, das Eishockey für körperlich Beeinträchtigte.
Der Sehnsuchtsort in Kanada
2018 reist er mit einem Freund erneut fünf Wochen lang durch den Nordwesten Kanadas und Alaska und stösst auf die Stadt Whitehorse, die er als Sehnsuchtsort beschreibt: «Dort fühle ich mich enorm wohl», sagt er. «Als wäre es ein weiteres Zuhause.»
Im Winter spielen Markus und Flurin Böni Eishockey auf Natureis in Scuol. In die Engadiner Gemeinde zieht sich die Familie zurück, wenn sie Ruhe sucht und Energie tanken will. «Mein Vater ist der Inbegriff des Kämpfertyps», sagt Flurin. «Aufgeben kennt er nicht. Trotz seiner Beeinträchtigung steht die Familie stets an erster Stelle. Er hilft allen, wenn er kann, und ist einfach ein Vorbild.» Trotz seiner körperlichen Einschränkungen hat sich Markus Böni eines vorgenommen: «Ich will meiner Frau nie auf den Wecker gehen. Mit den Möglichkeiten, die mir bleiben, führe ich ein aktives Leben.»
Er fotografiert in seiner Freizeit, hält Fotovorträge, fährt mit seinem VW-Bus los und übernachtet auch mal darin. Oder er trifft sich zum Unihockey mit Freunden des Rollstuhlclubs Thurgau und besucht ein Heimspiel der Rapperswil-Jona Lakers. Zudem bringt er sich im Vorstand von Sailability ein, einem Verein, der Betroffenen das Segeln ermöglicht. Früher zog es ihn regelmässig aufs Wasser. «Wenn ich Boot sass, vergass ich meine Einschränkungen», sagt er.
Wo immer Markus Böni auftaucht, verbreitet sein ansteckendes Lachen gute Laune. Und jeden Fotovortrag beendet er mit seinem Lebensmotto: «Bleibt neugierig.»
Sein Traum? Freude am Leben
«Ich würde ihn sofort wieder heiraten», sagt Evelyn Böni am Schiffsteg in Romanshorn und strahlt ihren Mann an. Der entgegnet: «Und du bist mein Anker.» Was die Zukunft für das Paar bereithält – Evelyn Böni weiss es nicht, und sie thematisiert es auch nicht, erst recht nicht unmittelbar vor ihrem Mann. Aber eines versichern beide: «Resignation ist in keiner Lebenslage eine Option für uns.»
Markus Böni hört aufmerksam zu, nickt zwischendurch und setzt sich dann mit der Frage auseinander, ob er Träume habe. «Mein Traum ist es, weiterhin Freude am Leben zu haben», sagt er. Und: «Ich möchte als kleines Zahnrädli mithelfen, dass es möglichst vielen Menschen in meinem Umfeld gut geht.»
Mitleid braucht er keines. Sein Weg, davon ist er überzeugt, ist von irgendeiner Instanz so vorgezeichnet. Die Lähmung schreitet voran, das spürt er. Aber dem gibt er nicht zu viel Gewicht. Schliesslich hat er noch viel vor. Und eines will er sich nicht zum Vorwurf machen: dass er etwas Reizvolles im Leben ausgelassen hat.
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