

Die Abteilung ParaWork des Schweizer Paraplegiker-Zentrums unterstützt die berufliche Eingliederung von Menschen mit Querschnittlähmung. Gemeinsam mit anderen Fachbereichen auf dem Campus Nottwil bildet sie ein schweizweit einzigartiges Kompetenzzentrum.
Text: Stefan Kaiser
Fotos: Sabrina Kohler, Joel Najer
Die erste Etappe auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt hat Sofiane Hadfi erfolgreich abgeschlossen. Im Aufbautraining von ParaWork in Nottwil ist er bei zwanzig Stunden pro Woche angelangt. Jetzt beginnt seine nächste Etappe: das Perspektivenjahr mit umfassenden berufsspezifischen Abklärungen. Er wird viele Tests zu seinen Fähigkeiten, Schulkenntnissen und beruflichen Interessen absolvieren. Er wird in verschiedene Betriebe schnuppern gehen und sich eine Lehrstelle suchen – immer eng begleitet von den Integrationsspezialistinnen und -spezialisten in Nottwil.
Ein so intensives Programm wäre für ihn vor Kurzem noch undenkbar gewesen. «Vor vier Monaten habe ich mit acht Stunden pro Woche angefangen», erzählt der 21-Jährige aus Murten FR. «Und mich dann Stunde um Stunde gesteigert.» Nach einer 20-Stunden-Woche ist sein Körper zwar noch müde, aber er freut sich, dass er durch das Aufbautraining sein erstes Ziel erreicht hat – das Pensum einer Halbzeitstelle zu bewältigen.
Die ständige Ungewissheit
Sofiane Hadfi blickt zuversichtlich in die Zukunft: «Es geht mir gut. Ich denke immer positiv.» Fünfzehn Jahre lang spielte er ambitioniert Fussball. 2022 stand er im zweiten Lehrjahr zum Zimmermann, als wie aus dem Nichts eine erweiterte Vene in seinem Hals aufplatzte und eine halbseitige Lähmung verursacht hat. Er wurde operiert, erholte sich und fing eine Ausbildung als Architekturzeichner an. Doch im Sommer 2024 platzte das Aneurysma ein zweites Mal. Die Folge der Blutungen: eine inkomplette Paraplegie.
Eine Operation so nahe am Rückenmark wäre diesmal zu riskant, sagten die Ärzte. So lebt der junge Mann mit einer ständigen Ungewissheit vor dem nächsten Mal. Angst hat er deswegen keine. «Diese Situation gehört zu meinem Leben», sagt er. «Wenn es kommt, dann kommt es.» Heute denkt er vor allem an seine berufliche Zukunft.
Aus Murten in die ParaWG
Im Aufbautraining der ParaWork erledigt Sofiane Hadfi einfache Büroarbeiten und Tätigkeiten mit den Händen. Er nutzt den PC und Simulationsgeräte für grössere Maschinen, lernt Spanisch und besucht Deutsch- und Englisch-Kurse. Zum Wohnen ist er von Murten in ein Zimmer der ParaWG in Nottwil gezogen. Sonst könnte er nicht täglich am Aufbautraining teilnehmen.
«In der ersten Phase unserer Integrationsmassnahmen geht es vor allem darum, mit einem Belastungsaufbau das Pensum zu steigern und eine gewisse Konstanz zu erreichen», sagt ParaWork-Coach Harald Suter. «Eine Querschnittlähmung ist eine so komplexe Verletzung des Körpers, dass man den Betroffenen helfen muss, ein Niveau der Stabilität zu erreichen, das es für den Arbeitsmarkt braucht.»
Der 53-Jährige weiss, wovon er spricht. Er sitzt seit 27 Jahren selbst im Rollstuhl. Bei ParaWork betreut er die Trainingsarbeitsplätze, den Belastungsparcours sowie einen wöchentlichen Peer-Talk für den direkten Austausch unter Betroffenen.

An die Arbeitswelt heranführen
Nach Abschluss der Erstrehabilitation in der barrierefreien Umgebung des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) gehen die betroffenen Personen zuerst für eine gewisse Zeit nach Hause. Dort lernen sie, ihren Alltag selbstständig zu meistern und alle Ansprüche unter einen Hut zu bringen. Von der zeitaufwendigen Körperpflege bis zu den ambulanten Therapien, von Versicherungsfragen und familiären Themen bis zum Umgang mit Hindernissen in der Öffentlichkeit. Nicht vielen gelingt es, sich gleichzeitig noch ein neues Berufsleben aufzubauen.
Deshalb bekommen sie nach einigen Monaten die notwendige Unterstützung in Nottwil. «Am Anfang spielt die Art der ausgeführten Tätigkeiten noch keine Rolle», sagt Coach Harald Suter. «Viel wichtiger ist die Stabilität des Arbeitseinsatzes,
mit dem wir die Betroffenen schrittweise an die Arbeitswelt heranführen.» Zwanzig Stunden sind das Minimum, damit man die nächsten Etappen angehen kann.
In dieser Phase der Stabilisierung zeigt sich die Wichtigkeit der interprofessionellen Zusammenarbeit und der kurzen Wege auf dem Campus Nottwil. Wenn während des Aufbautrainings gesundheitliche Probleme wie Harnwegsinfekte, Spastiken, Schmerzen oder psychische Fragen auftauchen, können sie direkt vor Ort behandelt werden. Würde dies bei einem Arbeitgeber geschehen, wären sie schwieriger zu handhaben und könnten die Integrationsbemühungen gefährden. Das Gleiche gilt für den engen Austausch zwischen ParaWork und den Therapien, dem Ambulatorium oder den Fachbereichen für die Anpassung von Hilfsmitteln.
Das Ziel: Nachhaltigkeit
Früher ging man die Wiedereingliederung bereits während der medizinischen Rehabilitation an, erzählt Harald Suter. Primär wurde geprüft, wie die stationären Patientinnen und Patienten in ihren angestammten Beruf zurückkehren können. Für jene, denen dies nicht mehr möglich war, entwickelte die Berufsberatung Vorschläge, die sie nach dem Austritt mit externen Beratungsstellen weiterverfolgten.
Die Komplexität einer Querschnittlähmung konnte in diesem Kontext jedoch nicht angemessen berücksichtigt werden. «Viele Betroffene sind nach einer gewissen Zeit wieder aus dem Arbeitsprozess herausgefallen – einfach, weil die Belastung für ihren Körper zu gross war», sagt Harald Suter. Die Erkenntnis, dass diese Menschen enger und langfristiger begleitet werden müssen, damit die Arbeitsintegration nachhaltig erfolgreich ist, führte 2014 zur Gründung von ParaWork.
«Es ging mir zu nahe ans Herz»
«Allein hätte ich es nicht geschafft», sagt Tim Harder. Ein Turnunfall Ende 2022 führte beim 22-jährigen Winterthurer zu einer inkompletten Tetraplegie. Die erste Etappe der Integrationsmassnahmen bringt er rasch hinter sich. Doch dann tauchen bei der berufsspezifischen Abklärung viele Fragen auf, die ihn überfordern.
Seine Leidenschaft gilt noch immer dem Schreinerhandwerk, das er gelernt hat. Aber die Tests zeigen, dass sein Traumjob nicht mehr möglich ist. Er schnuppert in verschiedenen Arbeitsbereichen, die dem Schreiner-Handwerk ähnlich sind - und bricht nach wenigen Tagen ab. «Es ging mir zu nahe ans Herz», sagt er.
Gemeinsam wird beschlossen, eine Pause zu machen. «Wir merkten: Tim war noch nicht bereit für die Neuorientierung», sagt Nicolas Egger, Berufs-, Studien- und Laufbahnberater bei ParaWork. «Also nahmen wir Druck weg und gingen zurück zu den Integrationsmassnahmen.» Tim Harder nimmt die psychologische Unterstützung des SPZ in Anspruch und steigert sein Training im Rennrollstuhl. Als er nach sechs Monaten zurück zur berufsspezifischen Abklärung kommt, geht der Prozess zügig voran. Der verunfallte Schreiner entschliesst sich für eine vierjährige Ausbildung an der Swiss Talent School, die eine kaufmännische Lehre mit Spitzensport verbindet.
«Ich bin froh, dass mich ParaWork und die Invalidenversicherung auf diesem Weg unterstützt haben», sagt er. Die berufliche Abklärung beleuchte sehr intensiv viele Aspekte, aber das sei wichtig: «Hier werden die Weichen für das Leben gestellt. Deshalb sollte man Zeit haben, um alles zu prüfen und zu testen, was überhaupt möglich ist.»


«In Zentrum stehen realistische und nachhaltige Lösungen.»
Nicolas Egger, ParaWork
Zur Transparenz verpflichtet
ParaWork kombiniert standardisierte Erhebungsmethoden mit individuellen Programmen, die auf die körperlichen Einschränkungen und die persönliche Situation eingehen. Das Ziel ist eine Wiedereingliederung, die langfristig Sinn macht. Dabei geht es nicht nur um die Tätigkeit selbst, sondern auch um Aspekte wie der Umfang des Pensums oder den Anreiseweg. «Es bringt niemanden etwas, wenn wir unrealistische Wünsche der Klientinnen und Klienten begleiten und nach zwei Jahren bricht das Kartenhaus zusammen», sagt Berater Nicolas Egger. Da sind die über fünfzig Mitarbeitenden der ParaWork auch gegenüber der Invalidenversicherung (IV) zur Transparenz verpflichtet.
Diese staatliche Sozialversicherung bezahlt die spezialisierten Massnahmen für eine adäquate Arbeitsintegration von der ersten Basisabklärung während der Rehabilitation bis zur Berufsberatung und Arbeitsvermittlung. «Eingliederung vor Rente», lautet das Ziel der IV. Das heisst: Erst wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wird eine Rente oder Teilrente gesprochen. ParaWork ist die einzige Organisation in der Schweiz, in der alle dafür notwendigen Kompetenzen vorhanden sind – im Verbund mit den anderen Fachbereichen auf dem Campus Nottwil.
Wichtig ist der Faktor Zeit
«Wir schlagen eine Brücke zwischen der IV und unseren Klientinnen und Klienten», sagt Christina Lötscher, die das Team der berufsorientierten Integration leitet. «Deshalb müssen wir angesichts der komplexen Aufgabe jeweils einen Weg finden, der auch von den Kosten her gerechtfertigt ist.» Eines der wichtigsten Elemente in diesem Spannungsfeld ist der Faktor Zeit.

«Wir schlagen eine Brücke zwischen der IV und unseren Klientinnen und Klienten.»
Christina Lötscher, ParaWork
Denn durch die in den letzten Jahren erfolgte Verkürzung der stationären Rehabilitation sind etliche Betroffene nach ihrem Austritt aus der Klinik noch zu wenig stabil, um sich voll auf das Thema Beruf fokussieren zu können. Das erschwert die Massnahmen zusätzlich. «Aussenstehende sehen nur den Rollstuhl», sagt Christina Lötscher. «Aber die Kontextfaktoren, die die Leistungsfähigkeit eines Menschen beeinflussen, müssen ebenso stabil sein.»
Dank der zusätzlichen Zeit, die er für seine Integrationsmassnahmen bekommen hat, konnte Tim Harder einen vielversprechenden Weg für seine berufliche Zukunft finden. Bis zum Beginn seiner Lehre absolviert er bei ParaWork noch gezielte Vorbereitungen wie etwa das Auffrischen seiner Französisch- und Englischkenntnisse.
Nach dreizehn Monaten in der ParaWG hat er mit einer Kollegin und einem Kollegen, die beide ebenfalls im Rollstuhl sitzen, eine eigene Wohngemeinschaft gegründet. Alle anfallenden Aufgaben erledigen die drei ganz ohne fremde Hilfe. Dieser Schritt in die Selbstständigkeit bedeutet für Tim Harder einen weiteren Meilenstein im Rahmen seiner umfassenden Rehabilitation in Nottwil.
Über die Schweizer Paraplegiker-Gruppe
Die Schweizer Paraplegiker-Gruppe gehört zu den grössten gemeinnützigen Organisationen der Schweiz. Wir unterstützen querschnittgelähmte Menschen mit einem ganzheitlichen und weltweit einzigartigen Leistungsnetz – von der Unfallstelle oder bei krankheitsbedingter Diagnose, ein Leben lang.
Arbeite mit über 2000 Spezialistinnen und Spezialisten aus über 100 Berufen und ermögliche Menschen mit Querschnittlähmung ein selbstbestimmtes Leben.
Weitere Beiträge
Weitere Beiträge
Werden Sie jetzt Mitglied und erhalten Sie im Ernstfall 250 000 Franken.
Spenden Sie jetzt und unterstützen Sie unsere Projekte zugunsten von Querschnittgelähmten.