
Die Mitarbeitenden der Schweizer Paraplegiker-Gruppe verbindet eine einzigartige Kultur der Zusammenarbeit. Sie ist die Grundlage, um Menschen mit Querschnittlähmung die bestmögliche Betreuung bieten zu können.
Text: Stefan Kaiser
Fotos: Sabrina Kohler
Mit kleinen Hilfestellungen unterstützt Michelle Müller ihren Patienten beim Transfer vom Bett in den Rollstuhl. «Nur noch ein kleines Stück!», feuert sie ihn an. Der Patient schafft es mit letzter Kraft – und strahlt sie glücklich an. Noch vor zwei Wochen wäre dieses Erfolgserlebnis undenkbar gewesen. Jetzt freuen sich beide gemeinsam über einen weiteren Fortschritt des querschnittgelähmten Mannes auf seinem langen Weg der Rehabilitation.
Michelle Müller ist seit dreieinhalb Jahren als diplomierte Pflegefachfrau HF und Wundexpertin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil tätig. Sie wollte schon immer mit Menschen arbeiten, sagt die 22-jährige aus Emmen LU: «Im SPZ kann ich etwas bewirken. Man geht am Abend nach Hause und weiss, was man gemacht hat. Das gibt einem sehr viel.»
Der Paraplegiker, den sie an diesem Morgen betreut, hat die richtige Technik des Transferierens in den Therapiestunden gelernt. Mit Michelle Müller wendet er das Gelernte immer wieder im Klinikalltag an und bekommt von ihr wertvolle Tipps. Die Pflegefachfrau tauscht sich aber auch mit den Therapeutinnen aus, damit sie seine Technik noch weiter optimieren können.


«Ich hätte weinen können vor Freude»
Von allen Fachpersonen einer Klinik begleiten die Pflegenden die Entwicklung ihrer Patientinnen und Patienten am nächsten. Sie sehen sie rund um die Uhr, bauen eine Beziehung zu ihnen auf und sind erste Anlaufstelle bei Fragen und Problemen. Sei es im gesundheitlichen oder mentalen Bereich.
«Einmal betreute ich auf der Akutstation wochenlang einen Mann mit Guillain-Barré-Syndrom, der pausenlos beatmet werden musste», erzählt Michelle Müller. «Sein Körper war vollständig gelähmt. Ich pflegte ihn in allen Situationen; im Frühdienst, im Spätdienst, in der Nacht.» Dem Behandlungsteam gelingt es schliesslich, den Mann von der künstlichen Beatmung zu befreien. Als er in die Reha-Abteilung verlegt wird, verliert die Pflegefachfrau ihn aus den Augen. «Nach meinen Ferien besuchte er mich auf der Station – und konnte wieder gehen.
Ich hätte weinen können vor Freude.» Sie ist stolz, mit ihrer Arbeit zu solchen Erfolgsgeschichten beitragen zu können. Aber lieber spricht sie von der Energie, die von den Patientinnen und Patienten zurückkommt. Oder dass es in Nottwil immer die enge Zusammenarbeit eines Teams unterschiedlicher Fachpersonen braucht, um das bestmögliche Resultat zu erreichen.
Auch die Förderprogramme und Entwicklungsmöglichkeiten bekommen Lob: «Als ich die Höhere Fachschule abgeschlossen hatte, durfte ich schon bald leitende Aufgaben auf der Station übernehmen. Man unterstützte auch meine Ausbildung zur Wundexpertin, das schätze ich sehr.» Besonders schön findet Michelle Müller, dass sie weiter am Patientenbett arbeiten kann: «Das ist es, was ich ursprünglich gelernt habe, und was ich am liebsten mache.»

«Wir fokussieren auf unsere Stärken und die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen.»
Inspirierende Kultur des Miteinander
In der Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) lässt sich eine inspirierende Kultur des Miteinander beobachten, der sogenannte «Spirit von Nottwil». Und oft beschreiben die Mitarbeitenden ihre Arbeit als «sinnhaft». Darin spiegelt sich, dass das Hauptziel der Gruppe nicht das Erwirtschaften von Gewinn ist, sondern Menschen mit Querschnittlähmung ein Leben lang zu begleiten. Der gemeinsame Auftrag verändert den Horizont und das Gewicht der eigenen Arbeit – denn man engagiert sich unmittelbar für Menschenleben.
Die Aufgabe der Arbeitgeberin ist es, dafür zu sorgen, dass die Mitarbeitenden den hohen Ansprüchen aus dem Auftrag an die Gruppe gerecht werden können. «Als Organisation versuchen wir, passende Rahmenbedingungen zu schaffen – von der Infrastruktur über die Arbeitsmittel und Arbeitsmodelle bis zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben», sagt Marcel Unterasinger Stäger, Leiter Human Resources der SPG. «Auch die Gesundheitsförderung, die Führung und Wertschätzung und die Stärkung der persönlichen Kompetenzen mit Aus- und Weiterbildungen sollen den Druck auf die Mitarbeitenden verringern.»
Ein sichtbares Resultat all dieser Anstrengungen sind regelmässige Auszeichnungen wie «beste Arbeitgeberin im Gesundheitswesen» oder die Zertifizierung als «Friendly Work Space». Auf den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen angesprochen, gibt der HR-Leiter zu bedenken: «Faire Entlöhnung oder flexible Anstellungsbedingungen sind heute keine Benefits mehr, sondern eine Grundvoraussetzung. Hier sind wir gut aufgestellt. Wir fokussieren deshalb auf unsere Stärken und die kontinuierliche Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen.» Dazu steht die HR-Abteilung in einem ständigen Dialog mit Mitarbeitenden und Führungskräften.
«Wir haben ein tolles Team und sind Teil einer Gruppe, die sich gemeinsam für ein Ziel einsetzt.»
Man fühlt sich wertgeschätzt
«Wir suchen für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, die beste Lösung, damit sie ihren Alltag so gut wie möglich meistern können», sagt Roger Wiederkehr. «Schon kleine Anpassungen haben eine grosse Wirkung. Manchmal sind aber auch Eigenentwicklungen nötig.» Der 47-Jährige aus Obernau LU arbeitet seit zehn Jahren als Mechaniker Rehatechnik in der Orthotec, einer Tochtergesellschaft der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Er baut manuelle und elektrische Rollstühle auf, repariert sie und passt sie den individuellen Wünschen seiner Kundinnen und Kunden an.
Das Schöne an seiner Arbeit ist, dass er unmittelbar sieht, wie betroffene Menschen selbstständiger werden. Und ihm ist wichtig, dass in Nottwil Werte wie Sorgfalt und Qualität gefördert werden und nicht ständig der Zeitdruck im Vordergrund steht. Den «Spirit von Nottwil» erlebt Roger Wiederkehr als kollegiale Zusammengehörigkeit: «Wir haben ein tolles Team. Man ist Teil einer Gruppe, die sich für ein gemeinsames Ziel einsetzt. Keiner steht allein da. Man unterstützt sich gegenseitig und hilft einander, auch wenn der Arbeitstag einmal länger dauert.»
Zur Kollegialität im Haus gehört, dass Fachpersonen aus anderen Abteilungen auch einmal ohne Termin bei ihm in der Werkstatt vorbeischauen können, um gleich zusammen mit ihren Patientinnen und Patienten eine wichtige Einstellung am Rollstuhl vorzunehmen. Und wenn einmal ein Elektrorollstuhl in der Klinik stehen bleibt, löst er das Problem gleich vor Ort.
Roger Wiederkehr fühlt sich wohl in Nottwil: «Nicht nur von den Betroffenen, auch vom Haus bekommt man viel zurück und fühlt sich wertgeschätzt.» Besonders wertvoll findet er die Kindertagesstätte auf dem Campus: «Als unsere Kinder jünger waren, konnte ich beide in der Kita abgeben und meine Frau konnte weiterarbeiten. Das hat uns sehr geholfen – und die Kinder fanden es grossartig.»

Zusammen den Erfolg suchen
Im Bereich der Therapien geht der fachliche Austausch so weit, dass Nathalie Blümel und Nora Merz im Büro sogar am gleichen Tisch sitzen. Die 30-jährige Ergotherapeutin und die 35-jährige Physiotherapeutin bilden ein Therapie-Couple, das typisch ist für die kurzen Wege und die enge Verzahnung der Fachbereiche.
«Die Entwicklung der Patientinnen und Patienten mitzuerleben, ist besonders schön», sagt Nora Merz. «Man arbeitet mit ihnen über vier, sieben oder neun Monate und am Ende sind sie wieder so autonom wie möglich.» Allein mit der Physiotherapie würden es die Betroffenen nie so weit schaffen: «Es ist das Zusammenwirken der Berufe, die unseren Erfolg ausmacht.»
Die Physiotherapie arbeitet mehr an den körperlichen Grundlagen, die Ergotherapie hat konkrete Anwendungen im Blick. «Wenn Nora mit den Patientinnen und Patienten übt, sich im Bett zu drehen und aufzusitzen, dann kann ich mit ihnen trainieren, wie sie sich selbst anziehen können», erklärt Nathalie Blümel.
Wenn eine neue Technik sitzt, betreut die Pflege die alltägliche Ausführung auf der Station. So arbeiten alle Berufsgruppen Hand in Hand für das gleiche Rehabilitationsziel. Jede Querschnittlähmung ist einzigartig und benötigt eine individuelle Behandlung, die sich nur mit dem geteilten Wissen der verschiedenen Fachbereiche ausführen lässt. «Interprofessionalität bedeutet aber nicht nur, dass viele Personen beteiligt sind, sondern auch, dass wir unser Wissen gut untereinander austauschen», sagt Nathalie Blümel. «Das geschieht bei uns in speziellen Kommunikationsgefässen.» Das Mitdenken für andere Fachbereiche ist dabei selbstverständlich und die Wege zu den Kolleginnen und Kollegen sind jeweils kurz.
Als persönlichen Vorteil schätzt Nathalie Blümel die familiäre Umgebung in Nottwil, welche die soziale Vernetzung untereinander fördert: «Ich kam allein aus Norddeutschland und habe 700 Kilometer nach Hause. Im SPZ habe ich bereits in kurzer Zeit einen guten Freundeskreis gefunden – das hört man anderswo nicht oft.» Nora Merz wiederum findet neben dem grossen Sportangebot besonders die internen Entwicklungsmöglichkeiten und Weiterbildungsangebote attraktiv.

Ergotherapeutin Nathalie Blümel passt die Sitzposition an ihren Patienten an.
Ohne Mitglieder geht es nicht
Mit der ganzheitlichen Perspektive auf Menschen mit Querschnittlähmung ist in Nottwil eine attraktives Arbeitsumfeld entstanden. Dabei spielt eine nicht unwesentliche Rolle, dass hinter der Schweizer Paraplegiker-Gruppe eine Stiftung mit zwei Millionen Mitgliedern steht, sagt HR-Leiter Marcel Unterasinger Stäger: «Die breite Unterstützung der Bevölkerung erlaubt uns den Blick auf alle relevanten Bereiche, die es für eine gelungene Integration braucht – auch solche, die sich betriebswirtschaftlich nicht rechnen würden.»
Nur dank der Solidarität der Mitglieder ist die Betreuung in Nottwil derart umfassend möglich. Ohne sie würde der Schweizer Paraplegiker-Gruppe eine wichtige Zutat fehlen.
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