Ehemalige Rollstuhlfahrerin kann heute an Krücken gehen

«Ich fiel zwölf Meter in die Tiefe»

Deborah Pranjes hat ihren Sturz überlebt und will nun in ihrem «zweiten Leben» jeden Tag geniessen.

Deborah ist 19 Jahre alt. Die Geschichte der Zürcherin klingt wie eine Aneinanderreihung von Schicksalsschlägen und Wundern. Noch vor wenigen Monaten wäre es undenkbar gewesen, dass sie ohne Rollstuhl zu einem Treffen in der Zürcher Innenstadt erscheint. Heute lässt nur noch ein etwas unregelmässiger Gang auf den Unfall vor knapp einem Jahr schliessen.

Originalartikel: Albina Muhtari / 20Minuten
Bilder: Albina Muhtari / zVg

«Du bist gefallen»

Alles begann im vergangenen Sommer bei einem Sprachaufenthalt auf Malta. Deborah lernt einen Jungen kennen, Jordi aus Holland. «Wir hatten ein Date und wollten bei ihm auf der Terrasse essen. Es war schon finster, als ich beschloss, schon mal hinaufzugehen. Ich hörte Jordi hinter mir herrufen, ich solle warten, die Glühbirne sei kaputt. Doch aus irgendeinem Grund lief ich weiter. Dann hatte ich einen Filmriss.»

Ruckelige Bewegungen, grelle Lichter – als die junge Frau ihre Augen wieder öffnet, liegt sie auf einer Trage, Leute rennen mit ihr in ein Gebäude. «Ich entdeckte Jordi und fragte ihn, was passiert sei. Er meinte: ‹Du bist gefallen.› Da merkte ich, dass ich kein Gefühl in den Beinen hatte.»

Erst auf der Trage seien die Erinnerungen an den Sturz zurückgekehrt, erzählt Deborah. Sie wusste wieder, wie sie rückwärts ins Leere getreten war und das Gleichgewicht verloren hatte. Sie erinnerte sich, wie ihre Finger noch den Rand des Abgrunds ertasten konnten und die Fingernägel auf dem Beton Kratzspuren hinterliessen, bevor sie rücklings in das schwarze Loch fiel.

 

«Ich hatte ein erstes Leben – und das jetzt ist mein zweites Leben.»

 

Wettlauf gegen die Zeit

Von der Terrasse im vierten Stock führte ein zwölf Meter tiefer Schacht hinunter. Dort war Deborah hineingestürzt. Im Spital auf Malta stellen die Ärzte Prellungen, Knochenbrüche und einen gebrochenen Wirbel fest. Immerhin stufen sie die junge Frau als «ausser Lebensgefahr» ein. Als die Röntgenbilder von Malta ins Zürcher Universitätsspital gelangen, sehen die Ärzte jedoch, dass der gebrochene Wirbel das Rückenmark abdrückt. «Ist das Rückenmark länger als 24 Stunden eingeklemmt, dann ist dir nicht mehr zu helfen, du bist gelähmt», erklärt die 19-Jährige.

Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: Die Rega schickt von der Schweiz aus einen Jet mit einer Anästhesistin und einem Chirurgen in Richtung Malta los, doch die Ankunft verzögert sich – ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt herrscht in Italien Erdbebengefahr. Das Flugzeug muss nach Albanien ausweichen – was die Sache zusätzlich verzögert. «Sowohl meine Familie als auch ich selbst waren zu diesem Zeitpunkt schon am Verzweifeln. Ich weiss noch, wie unendlich erleichtert ich war, als plötzlich die Ärztin vor mir stand und auf Schweizerdeutsch sagte: ‹Grüezi, wir sind aus der Schweiz und bringen Sie dorthin zurück.›»

Familie verschweigt Diagnose

Zurück in der Schweiz wird Deborah sofort wieder ins Spital gebracht und operiert. – doch die Operation verläuft nicht erfolgreich. «Die Ärzte sagten zu meinen Eltern, es tue ihnen leid, doch sie müssten sich darauf einstellen, dass ihre Tochter wohl für immer im Rollstuhl sitzen würde.» Für die Eltern und Geschwister bricht eine Welt zusammen. Von der Diagnose erzählt ihr allerdings niemand: «Meine Familie wollte nicht, dass ich mich damit abfinde.» Deborah geht also davon aus, dass das Gefühl in den Beinen zurückkommen wird - und sie sollte recht behalten.

«Ich möchte in High Heels zum Altar schreiten können»

Ein paar Wochen nach dem Unfall spürt Deborah plötzlich ein Jucken in den Zehen. Fast täglich kommen neue, kleine Bewegungen hinzu – zumindest im rechten Bein. Das linke bleibt weiterhin taub. In der Reha trainiert Deborah ihre Beine. Die Physiotherapeutin macht ihr Mut. Deborah erinnert sich an ihren ersten Tag in der Klinik, «da fragte mich die Therapeutin, was mein Ziel sei, wenn ich aus der Klinik rauskomme. Ich sagte, ich würde gern einmal zum Altar schreiten können – in High Heels. Und sie meinte: ‹Debbie, das schaffen wir!›»

Am drittletzten Tag vor ihrer Entlassung sitzt Deborah auf dem Bett in ihrem Zimmer, die beigen High Heels vor sich auf dem Boden. «Steh jetzt auf und streck deine Beine, so weit es geht, dann schlüpf in die Schuhe», sagt die Thera­peutin. Und Deborah erinnert sich: «Ich stand auf, glitt in die Schuhe und lief in diesen High Heels durchs Zimmer!» Sie lacht.

«Ein zweites Leben»

Es gebe zwar noch viele Sachen, die sie mit ihrem gestreckten Bein nicht tun könne, wie sich die Schuhe zu binden oder sich zu bücken. Auch dürfe sie keine schweren Sachen heben und müsse sich immer wieder hinsetzen, was ihr manchmal aufs Gemüt schlage. Wären diese Momente nicht, würde sie aber beinahe behaupten, ihr Leben habe sich nach dem Unfall zum Positiven verändert: «Ich hatte ein erstes Leben – und das jetzt ist mein zweites Leben. In diesem will ich jeden Tag geniessen. Ich liege abends im Bett und sage mir: ‹Das war ein geiler Tag!› Jeder Tag ist ein Geschenk, auch wenn du manchmal denkst, dein Leben sei scheisse. Wenn du so etwas erlebt hast, kommen dir deine früheren Probleme plötzlich ganz klein vor.»

 

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