
«Lebensqualität ist kein objektiver Messwert»
Sind Fussgängerinnen und Fussgänger glücklicher als Querschnittgelähmte? Jürgen Pannek befasste sich intensiv mit dieser Frage.
Text: Christine Zwygart und Stefan Kaiser
Bilder: Adrian Baer, iStock und zvg
Jürgen Pannek, weshalb absolvierten Sie neben der Arbeit den Studiengang «Philosophie und Medizin»?
Menschen in medizinischen Berufen werden zunehmend mit ethisch-moralischen Fragen wie Autonomie, Partizipation oder Ressourcenzuweisung konfrontiert. Die philosophische Auseinandersetzung mit diesen Themen kann helfen, im Berufsalltag eine eigene Position zu finden.
Ihre Abschlussarbeit analysiert das Glücksempfinden von Menschen mit und ohne körperliche Beeinträchtigung.
Am Schweizer Paraplegiker-Zentrum betreue ich seit siebzehn Jahren Menschen mit Querschnittlähmung. Mir fielen Studien auf, die vertreten, dass Personen, die gehen können, eine höhere Lebensqualität haben als jene im Rollstuhl. Diese These widerspricht meiner persönlichen Erfahrung. Die Masterarbeit bot mir die Möglichkeit, mich intensiver mit der Frage zu befassen.
Zu welcher Erkenntnis kommen Sie?
Lebensqualität ist kein objektiver, empirischer Messwert, sondern eine subjektive Einschätzung, die von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird und im Laufe des Lebens Schwankungen unterliegt. Die objektive Beurteilung der Lebensqualität einer anderen Person halte ich für unmöglich.

Prof. Dr. med. Jürgen Pannek ist Chefarzt Neuro-Urologie am Schweizer Paraplegiker-Zentrum.
Wodurch wird Lebensqualität beeinflusst?
Bei Personen mit Querschnittlähmung ist eine möglichst gute Funktionalität eine wesentliche Grundlage für eine gute Lebensqualität – chronische Schmerzen oder zum Beispiel eine starke Spastik verschlechtern sie. Auch das soziale Umfeld, die Mobilität und Wertvorstellungen sind entscheidend. Ein äusserer Einfluss wie eine Rückenmarkverletzung kann die Lebensqualität stark beeinträchtigen, doch dieser Effekt ist oft vorübergehend. Lebensqualität ist stets eine Momentaufnahme.
Sie beschreiben auch zwei Fallbeispiele.
Es sind zwei sehr unterschiedliche Verläufe bei einer nahezu identischen inkompletten Tetraplegie. Einerseits ein 18-Jähriger, der sich beruflich und sportlich eine Karriere aufgebaut hat und seine Lebensqualität als gut einstuft. Andererseits eine 21-jährige Frau, die einen Reitunfall erlitten hat. Für sie führte der Verzicht auf das Reiten zu einem nicht tolerierbaren Verlust an Lebensqualität und sie wählte den begleiteten Freitod.
Der Selbstversuch
Wie fühlt sich ein Leben im Rollstuhl an? Vier Pflegefachkräfte des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) wollten es genau wissen.Täglich arbeiten sie mit Menschen mit Querschnittlähmung und versetzen sich in sie hinein. Doch welche Herausforderungen bestehen ausserhalb der Klinik? «In Nottwil sind die Bedingungen nahezu perfekt», sagt Cornelia Aliverti. «Deshalb wollten wir Alltagssituationen erleben.» Ihr Fazit: «Der Tag war schwieriger, als wir es uns vorgestellt haben.»
Ohne Planung geht nichts
Die erste Hürde ist der öffentliche Verkehr. Rampen am Bahnhof sind nur mit einer Hilfsperson zu bewältigen. Lifte zum Perron erfordern Umwege. Und immer wieder ist der Ein- und Ausstieg in den Zug unmöglich. «In mehreren Bahnhöfen hätten wir keine Chance gehabt», sagt Nathalie Steiner. «Man müsste vorher jemanden zum Abklären hinschicken.» Planung ist alles. «Man kann nichts spontan unternehmen», sagt Mario Iseli. «Jeder Weg, jedes Restaurant, jede Toilette muss rollstuhlgängig sein.» Randsteine werden zur unüberwindbaren Barriere, andere erfordern Kraft und eine gute Rollstuhl-Technik. «Am Abend waren wir kaputt», sagt Stephanie Vogel. «Die Betroffenen müssen enorm viel leisten.»
Überraschend viele Ladengeschäfte haben eine Treppe vor der Türe. Einmal bringt eine Angestellte eine Rampe – doch der Türrahmen erweist sich als zu schmal. Als die Gruppe eine kleine Steigung bewältigt, springt ein Mann herbei und stösst Nathalie Steiner ohne zu fragen hoch: «Ich sagte mehrmals, dass ich keine Hilfe will, aber er liess nicht locker. Das empfand ich als übergriffig, selbst wenn es nett gemeint war.»«Ich wurde oft angelächelt»
Der Selbstversuch bringt auch positive Erlebnisse. In einer Migros-Filiale erweist sich das Personal als besonders einfühlsam. Und die meisten Personen reagieren hilfsbereit, wenn sie gefragt werden. «Ich wurde oft angelächelt, das fand ich schön», sagt Stephanie Vogel. Eher unangenehm sind starrende Blicke: «Da fühlt man sich ausgestellt.» Unangenehm ist auch die einmal willkürlich gestellte Frage, ob sie tatsächlich im Rollstuhl sitzen. «Es gibt offenbar fixe Bilder, wie Querschnittgelähmte auszusehen haben, und entsprechende Vorurteile», sagt Mario Iseli. Als die vier zurück ins SPZ fahren, kommt heftiger Regen auf. Sie müssen eine steile Abfahrt bewältigen – und sind ohne Spezialhandschuhe viel zu schnell unterwegs.
Ihr Experiment machten sie in der Freizeit – das sei es ihnen wert gewesen, sagt Cornelia Aliverti: «Man reflektiert das eigene Handeln anders.» Zum Beispiel stösst sie ihre Patientinnen und Patienten nicht mehr ungefragt ins Bad, obwohl es schneller geht. «Man hat noch mehr Empathie in der Pflege», ergänzt Stephanie Vogel. «Und ich achte noch stärker darauf, dass niemand mit dem Kopf im Nacken zu mir hochreden muss.» Auf weitere Tipps angesprochen, sagen die vier: «Das meiste ist gesunder Menschenverstand – zum Beispiel sich zu überlegen, wie man selbst im Rollstuhl behandelt werden möchte.»
Wie geht ein Arzt mit derart unterschiedlichen Reaktionen um?
Unsere Aufgabe ist es, die Patientinnen und Patienten bestmöglich zu unterstützen, zu begleiten und zu informieren, damit sie eigenständige Entscheidungen treffen können. Letztlich bestimmt jeder Mensch für sich, ob sein Leben lebenswert ist.
Welchen Einfluss hat die Persönlichkeit?
Wesentlich scheint mir, die Situation zu akzeptieren und die besten Wege für sich zu finden. Dies hängt nicht nur von der Art der Querschnittlähmung ab, sondern vor allem von der Persönlichkeit.
Veränderte das Studium Ihre Arbeit in Nottwil?
Mir wurde die Wichtigkeit philosophischer Fragen im Klinikalltag noch stärker bewusst. Dies hilft mir, meine Handlungen zu reflektieren und in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.
Was überraschte Sie am meisten?
Wie schnell wir glauben, die Lebensqualität anderer beurteilen zu können. Dies kann gravierende Folgen haben, zum Beispiel bei der Vergabe begrenzter Therapieplätze. Lebensqualität ist ein wichtiger Parameter für die individuelle Therapieplanung, aber keine generalisierbare Messgrösse für Vergleiche zwischen Personen.
Und was macht Sie persönlich glücklich?
Musik – vor allem Heavy Metal –, ein gutes Buch und das Zusammensein mit Menschen, die mir nahestehen.
Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt.
Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z.B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Werden Sie deshalb Mitglied der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, um im Ernstfall 250 000 Franken zu erhalten.
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250 000 Franken im Ernstfall
6 Vorteile einer Mitgliedschaft- Sie erhalten 250 000 Franken, wenn Sie nach einem Unfall querschnittgelähmt und dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen sind.
- Die Auszahlung erfolgt schnell und unbürokratisch.
- Die Auszahlung ist unabhängig von Versicherungsleistungen, Unfall- oder Behandlungsort.
- Eine Mitgliedschaft ist möglich für Personen mit Wohnsitz in der Schweiz wie auch im Ausland.
- Bereits 2 Millionen Mitglieder vertrauen auf die Schweizer Paraplegiker-Stiftung.
- Sie zeigen ihre Solidarität gegenüber querschnittgelähmten Menschen – denn es kann jeden treffen.
Unser Einsatz für Querschnittgelähmte
Unser Tun kurz erklärtDie Schweizer Paraplegiker-Stiftung ist ein gemeinnütziges Solidarwerk, welches sich für die gesamtheitliche Rehabilitation von Querschnittgelähmten einsetzt. Zusammen mit ihren Tochter- und Partnergesellschaften steht sie dafür ein, Querschnittgelähmte ein Leben lang zu begleiten. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung unterstützt das Schweizer Paraplegiker-Zentrum finanziell. Nebst Querschnittlähmung werden im Schweizer Paraplegiker-Zentrum auch Rückenverletzungen anderer Art behandelt. Bereits 2 Mio. Menschen in der Schweiz sind Mitglied bei der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.
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