
Plötzlich mittendrin im Familienfest
Ideen, die den Alltag von Menschen mit Querschnittlähmung verbessern, werden in Nottwil gezielt gefördert. Einer der kreativen Köpfe ist Hans Wyss. Sein Projekt: Die Virtual-Reality-Brille, die mit Augensteuerung bedient werden kann.
Text: Peter Birrer
Bilder: Sabrina Kohler
Hans Wyss biegt um die Ecke, mit wilder Mähne und dem Transportroboter «Mini-me» im Schlepptau. «Mini-me» ist so etwas wie der persönliche Gepäckträger für den Mann, der im SPZ zur Expertenorganisation «Digitalisierung Innovation Transformation» gehört. Hans ist Maschineningenieur, Eigentümer von 21 Autos von VW Käfer über Aston Martin bis Ferrari – und er ist: ein Bastler.
Der 60-Jährige, der in Effretikon ZH daheim ist, sagt: «Ich suche Ideen, die das Leben der Menschen im SPZ verbessern sollen.» Und wenn er von Menschen im SPZ redet, meint er: alle, also nicht nur Betroffene, sondern auch deren Angehörige sowie Mitarbeitende in Nottwil.


Innovation ein zentrales Anliegen
Nun ist Hans daran, eine VR-Brille weiterzuentwickeln, ein Hilfsmittel, mit dem es sich in die virtuelle Welt eintauchen lässt – und das sich allein über die Augen steuern lässt. Noch ist diese Welt für viele Tetraplegikerinnen und Tetraplegiker nicht zugänglich, weil gewisse Handfunktionen vorausgesetzt werden. In Zukunft aber sollen sie zum Beispiel die Tür öffnen, mit der Brille Videos schauen oder virtuell an einem Familienfest teilnehmen können. Oder um es mit den Worten von Hans zusammenzufassen: «Die soziale Teilhabe soll wie vor dem Unfall oder der Erkrankung möglich sein.»
Innovation ist im Alltag auf dem Campus ein zentrales Anliegen, kreative Ansätze können sich plötzlich zu Projekten entwickeln, die Menschen mit Querschnittlähmung dienlich sind. Wer immer eine Idee hat, die Fortschritte in Aussicht stellen, ist bei Florian Meister an der richtigen Stelle. Der Leiter Unternehmensentwicklung und Innovation der Schweizer Paraplegiker-Stiftung steht für die Förderung von Innovation, die in der Strategiephase 2021 bis 2024 als Schwerpunkt definiert worden ist.
«Die soziale Teilhabe soll wie vor dem Unfall möglich sein.»
Ideen erwünscht
Innovation kann vieles sein, ein physisches Produkt wie etwa die VR-Brille, eine Dienstleistung oder ein digitales Werkzeug wie eine Applikation. Die Stiftung hat nun unter der Leitung von Florian Meister und in enger Zusammenarbeit mit der SPZ-Abteilung Digitalisierung Innovation Transformation einen sogenannten Innovation Hub aufgebaut, der dazu animieren soll, Gedanken und Einfälle für potenzielle Projekte einzugeben. Ideen sind von allen Seiten erwünscht, von Betroffenen, Angehörigen und Mitarbeitenden, auch von Start-ups oder Hochschulen. Sobald eine Absicht formuliert und deponiert ist, wird ein Prozess in Gang gesetzt.
Der Innovation Hub beschäftigt sich intensiv mit der Idee und klärt ab, ob es sich lohnt, sie weiterzuverfolgen, also auch: Mittel zu investieren. Eine Kernfrage, die stets im Mittelpunkt steht: Was ist der Mehrwert für die Betroffenen? Falls er eruiert ist, diskutiert das Gremium über die Finanzierung und natürlich auch darüber, wie realistisch eine Umsetzung tatsächlich ist. «Wir verfolgen ein Projekt nur weiter, wenn wir überzeugt sind, dass Menschen mit Querschnittlähmung davon profitieren», sagt Florian.

Sind für die Innovationsförderung zuständig: Tobias Höller, Uli Kössl, Stefan Stalder, Hans Wyss, Andreas Gautschi und Florian Meister (v.l.n.r.)
Zahlenmensch und Macher
Der 35-Jährige strebt einen Kulturwandel an. Bestehendes darf kritisch hinterfragt werden, auf dem Campus soll die Innovationskultur gestärkt werden. «Wir leisten es uns, Innovation zu fördern », sagt er, betont aber auch, dass der Innovation Hub eines nicht sein wolle: ein Ideen-Mülleimer. Aus diesem Grund müssen Ansätze von Ideen zuerst eine Art Belastungstest bestehen: Wer einen Vorschlag hat, muss einen detaillierten Fragebogen (SPG Innovation Canvas) ausfüllen, der Aufschluss darüber gibt, ob es sich lohnt, das Projekt weiterzuverfolgen.
Florian ist als Betriebswirt ein Mann der Zahlen, bezeichnet sich aber auch als «Macher» und «Teamworker». Als ehemaliger Spitzencurler kennt er aber auch Niederlagen, darum kann es auch sein, dass nicht jedes angeschobene Projekt ins Ziel gebracht wird: «Ich habe keine Mühe mit dem Scheitern, wenn Argumente dafür sprechen, abzubrechen.»
Selbst Erfahrungen sammeln
Hartnäckigkeit und Leidenschaft sind Grundvoraussetzungen, um aus einer Idee etwas Handfestes zu formen. Hans Wyss bringt beides mit. Er will, dass seine VR-Brille von möglichst vielen Menschen genutzt werden kann. So erzählt er von einem Patienten, der im Bett lag, stundenlang in die Luft starrte und anfing, die kleinen Löcher in den Deckenpanels zu zählen. «Mit der Brille wird seine Welt abwechslungsreicher», sagt Hans, «er kann Teil von sozialen Anlässen werden, Videos oder Bilder anschauen oder sich – zum Beispiel mit Google Earth – virtuell an irgendeinen anderen Ort der Erde versetzen.»

Mit der VR-Brille in neue Welten eintauchen: Hans Wyss im Selbstversuch.
Hans empfiehlt allen Interessierten, eigene Erfahrungen mit der VR-Brille zu machen und das Hilfsmittel auszuprobieren. Ein Prototyp der Brille ist vorhanden, der noch über eine Handsteuerung funktioniert. Entwickelt wird nun eine Applikation, die ermöglicht, allein mit den Augen das Gerät zu bedienen. Ist die App dann endlich verfügbar, ist auch Hans am Ziel. Oder vermutlich eher wieder am Start. Denn einem wie ihm gehen die Ideen nie aus.

Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt.
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