Der Querschnittgelähmte geniesst sein Leben - trotz Rollstuhl und täglicher Schmerzen

«Schmerzen kommen auch nur aus dem Gehirn»

Simon Hitzinger liebt das Leben, egal ob mit oder ohne Rollstuhl: «Es gibt noch viel zu entdecken.»

Simon Hitzinger, «Hitzi», (23) ist querschnittgelähmt, da er im Jahr 2011 vom Balkon stürzte. Seit dem Unfall hat er keine schmerzfreien Tage erlebt. Wie geht Hitzi mit seinen täglichen Schmerzen um und wie kann er die Sexualität trotzdem geniessen? 

Text: Tamara Reinhard
Bilder: Simon Hitzinger / Rachel Höferlin / Thierry Tüscher

Das lasen Sie in den letzten Hitzi-Storys:

Am 1. Mai 2011 nimmt Simon Hitzinger an der letzten Party vor dem Abriss des alten Basler Kinderspitals teil. Als er auf dem Balkongeländer des 2. Stocks sitzt, lehnt er sich gegen ein Banner. Doch dieser reisst und er stürzt 12 Meter in die Tiefe. Durch den Aufprall wird er zum Querschnittgelähmten. In Hitzi-Story: Teil 1 lesen Sie die Schilderung seines Unfalls. Den Weg zurück ins Leben – Rehabilitation, lesen Sie in Hitzi-Story: Teil 2.

Das Portrait eines Kämpfers

14.00 Uhr, sonniger könnte der Tag nicht sein. Simon, «Hitzi», und ich verweilen an der Reuss in Luzern. «Gib mir eine Kamera und ich bin glücklich.» Hitzi hat sichtlich Spass daran, Bilder von der Kappelbrücke zu knipsen. Doch alle gefühlte zehn Minuten stützt er sich vom Sitzkissen ab, um sein Gesäss zu entlasten. Warum? «Es brennt vor Schmerz, andauernd.» Manchmal muss er sich hinlegen, weil die Schmerzen so stark sind.

Simon Hitzinger ist auch im Rollstuhl stets unterwegs.

Simon Hitzinger ist freiarbeitender Fotograf. Reise- und Portraitfotografie sind seine Spezialitäten.

Weitere Bilder: https://www.facebook.com/Hitzigraphy | https://www.instagram.com/hitzi_hitzinger/

Die Sonnen- und Schattenseiten

Nach dem Unfall befindet sich Hitzi im Rehab Basel in der Rehabilitation. Das Ziel ist, den Alltag wieder selbstständig zu meistern. Angefangen beim Kleider anziehen, Essen und Trinken bis hin zum Duschen. Zu Beginn kann er natürlich nichts von dem alleine und ist auf die Hilfe der Betreuer angewiesen. Rückblickend meint er, dass es eine gute und schöne Zeit mit den Betreuern war. «Es wurden Freundschaften geschlossen.»

Doch es gibt auch Schattenseiten. Obwohl er sich mit den meisten Betreuungspersonen gut versteht, fühlt sich Hitzi ihnen ausgeliefert. Die ständige Nähe des Personals setzt ihm zu. «Es ist sicherlich nicht angenehm, wenn sechs verschiedene Frauen dir täglich einen Schlauch in den Penis stecken.» Dieser Schlauch ist ein Katheter. Hitzi schaut so gut wie möglich weg, wenn er katheterisiert wird. Mit dem Katheter wird die Blase entleert, weil selbstständiges Wasserlösen oftmals erschwert oder nicht mehr möglich ist.»

Fühlen, wo nichts ist

Hitzi setzt eine gelbe Sonnenbrille auf und rückt sein blaues Shirt zurecht. Der pinke Rollstuhl rundet das Farbintermezzo ab. Ich reiche ihm einen Cappuccino. Er nimmt einen Schluck. «Beim Katheterisieren verreck’ ich manchmal fast vor Schmerzen.» Hitzi ist von der Brust an abwärts gelähmt und fühlt unterhalb eigentlich nichts mehr. «Andere mit derselben Lähmung spüren gar nichts beim Katheterisieren.»

 

«Beim Katheterisieren verreck’ ich manchmal fast vor Schmerzen.»

Gefühl von Hilfslosigkeit

Hitzi liegt auf der Pflegestation als er zum ersten Mal katheterisiert wird. Die Situation verunsichert ihn. Der Betreuer breitet das Instrumente-Set aus. «Oh, das System kenne ich gar nicht.» Diese Aussage versetzt Hitzi in leichte Panik. «Ich fühlte mich noch mehr ausgeliefert. Und wehrlos.» Er glaubt, dieses Ereignis hatte einen traumatischen Einfluss auf sein Empfindungsgefühl. Denn unerklärlicherweise und trotz Lähmung hat er täglich Katheterisierungsschmerzen.»

Einige Monate später befindet sich Hitzi mit einer Betreuerin im Bad. Sie reicht ihm den Katheter und fordert ihn auf, sich nun selbst zu Katheterisieren. Diese Vorstellung ist der reinste Horror für ihn. «Nein», ist seine einzige Antwort dazu. Ich schaue ihn an. «Klar, inzwischen tue ich es ja.» Er legt den leeren Kaffeebecher weg, um die Hände wieder frei für die Kamera zu haben. «Einfach unter Schmerzen.»

Mittlerweile hat Hitzi die Theorie, dass die Nerven für diese Körperregion beschädigt sind, aber die Verbindung zum Gehirn noch besteht. Durch diese Beschädigung reagieren die Nerven übersensibel und lösen die Schmerzen aus. «Es reicht, wenn ich nur schon ans Katheterisieren denke und ich verspüre stechende Schmerzen zwischen den Beinen.»

Der Rollstuhlfahrer setzt sich stark für die Bedürfnisse von Betroffenen ein.
Der Querschnittgelähmte gniesst seine Stadt Basel in vollen Zügen - auf allen Rädern.

24/7 Schmerzen im Gesäss

Hitzi hat noch andere Schmerzen seit dem Unfall. «Bist du schon mal auf dem Turnhallenboden aufgeschürft?», fragt er mich grinsend. «So fühlt sich mein Hintern 24 Stunden lang an.» Dies ist der Grund, warum er sich immerzu vom Sitzkissen abstützt. Früher musste er sogar die Arbeit abbrechen und nur auf den Bauch liegen half. Vier Jahre lang liess er untersuchen, von wo dieser brennende Schmerz im Gesäss kommen könnte. Verschiedene Prognosen wurden gestellt, bis hin zu Knochenhautentzündung. Fehlanzeige.

Daraufhin sagte Hitzi den Ärzten, dass er keine weiteren Untersuchungen mehr wolle. Was, wenn es sich einfach um Phantomschmerzen handelt? «Weil es sieht ganz danach aus, als wäre mein Popo kerngesund.» Ein MRI-Scan für die IV brachte dann die Bestätigung. Es wurde eine Hirnverletzung im Zentrum für Körperwahrnehmung entdeckt, quasi ein Kippschalter der Phantomschmerzen auslöst. «Die Schmerzen sind stärker, wenn ich lange und steif sitze.» Es scheint als existiere eine physische Komponente, auch wenn diese nicht behandelbar ist.

Der querschnittgelähmte Hitzi gibt nicht auf. Mittels Meditation und Traumatherapie arbeitet er so gut wie möglich an sich selber, um sein Schmerzempfinden zu lindern.

Simon Hitzinger gibt nicht auf. Mittels Meditation und Traumatherapie arbeitet er so gut wie möglich an sich selber, um sein Schmerzempfinden zu lindern.

Sexualität ist ein anderer Schuh

Trotz diesem Gespräch über seine Schmerzen, ist Hitzi noch in guter Laune. «Ich entscheide das Leben positiv zu sehen.» Kann er trotz Schmerzen die Sexualität noch geniessen? Er grinst ein vielsagendes Ja. Wichtig sei, den Körper neu kennenzulernen und dem Partner vertrauen zu können. Beide sollten keine Angst davor haben. «Wenn du denkst du bist hässlich, unattraktiv und kannst eh nichts mehr, dann geht es mit oder ohne Querschnittlähmung auch nicht.»

Hitzi ist es wichtig, Irrtürmer und Tabus über Querschnittlähmung anzusprechen. Viele Menschen denken, Querschnittgelähmte können kein Geschlechtsverkehr haben. «In Wahrheit können zwei Leute dieselbe Lähmung aufweisen, aber ihre Sexualfunktionen sind noch unterschiedlich stark vorhanden.» Jeder spürt und erlebt es anders. Es gibt beispielsweise Männer, die kriegen Erektionen ohne Samenerguss, andere mit. Wieder andere haben gar keine Erektionen mehr.

Wie auch bei Fussgängern, hilft es neue Erfahrungen in der Sexualität zu sammeln. «Sich selbst und den veränderten Körper anzunehmen, benötigt Zeit und Willenskraft.» Hitzi löst die Bremse seines Rollstuhls und wir begeben uns zurück zum Bahnhof. Trotz Querschnittlähmung ist er glücklich. Dies verdankt er der vertieften Auseinandersetzung mit sich selbst. 

 

Trotz Querschnittlähmung ist Hitzi glücklich: «Mir geht es gut, denn ich habe meinen Unfall überlebt.»

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Traurig, aber wahr: Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt. Eine Querschnittlähmung führt zu hohen Folgekosten, z.B. für den Umbau der Wohnung oder des Autos. Damit Betroffene nicht zusätzlich von Geldsorgen geplagt werden, erhalten Mitglieder bei einer unfallbedingten Querschnittlähmung mit permanenter Rollstuhlabhängigkeit eine einmalige Zahlung von CHF 250 000.–.

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