Nicole Kälin und Pferd Da Vinci

Sie kämpft weiter, Tag für Tag

Eine seltene Multisystemerkrankung macht Nicole Kälin zur Paraplegikerin und raubt ihr einen grossen Teil ihres Sehvermögens. Trotzdem lässt sich die 29-Jährige aus Einsiedeln eines nie nehmen: die Hoffnung.

Text: Peter Birrer
Fotos: Adrian Baer

Auf einmal sind sie da – diese roten, unübersehbaren Flecken an den Beinen. Die Knie- und Sprunggelenke schwellen an, die Glieder fangen plötzlich an zu schmerzen, aus dem Nichts steigt die Körpertemperatur. Eine klassische Sommergrippe, was sonst? Und die roten Flecken sind sicher Insektenstiche. Das hat sie schon oft erlebt. «Halb so wild», denkt Nicole Kälin, «nächste Woche ist alles wieder gut.» Es ist Sonntag, der 11. Juni 2017. Sie verbringt den Tag als Zuschauerin eines Pferdesportanlasses auf dem Pfannenstiel. Es ist das Datum, an dem ihre unfassbare Leidensgeschichte ihren Lauf nimmt.

Mit 23 Jahren rundum glücklich

Nicole Kälin ist damals 23 Jahre alt und hat alles, was sie zu einer glücklichen Frau macht: den Beruf als tiermedizinische Praxisassistentin, ihre Pferde und ein Zuhause in der Ruhe von Einsiedeln. «Ich war immer ein Naturmeitli», sagt sie heute. «Und immer auch ein ‹Gispel›» – also ein sehr lebhafter Mensch.

Nicole Kälin in der Natrur

Als Bewegungsmensch zieht es sie ins Freie. Sie joggt, reitet und packt auf der Alp ihrer Eltern an. Sie fährt leidenschaftlich Ski und gibt auch an Wettkämpfen ein gutes Bild ab. Eine ihrer Konkurrentinnen in den Jugendjahren ist Wendy Holdener, die heute an der Weltspitze mitfährt. An intensiven Sport kann sie nicht mehr denken. Die vermeintliche Sommergrippe stellt sich als mysteriöse Erkrankung heraus, die sich nicht mit Medikamenten und Schlaf auskurieren lässt. Der Schmerz in den Beinen breitet sich aus, bis er so unerträglich ist, dass die junge Frau sich im Notfall des Regionalspitals Einsiedeln meldet.

Erste Untersuchungen führen zu keinem schlüssigen Ergebnis. Sie wird deshalb ans Universitätsspital Zürich überwiesen. Unbeirrt glaubt Nicole Kälin weiter an das Gute und denkt: «Nächste Woche bin ich wieder daheim und bei meinen Pferden.» Doch in Zürich wird eine höchst seltene, unheilbare Multisystemerkrankung diagnostiziert, die bei Frauen zwischen zwanzig und dreissig Jahren auftritt. Die neuropathischen Schmerzen sind stechend und brennend, sie führen so weit, dass Nicole Kälin keine Hose mehr tragen kann. Alles, was ihre Haut nur leicht berührt, löst einen heftigen Schmerz aus.

Ein Stimulator gegen Schmerzen

Sie muss lernen, Hilfe anzunehmen. Das kostet Überwindung, weil sie immer unabhängig war. Aber bald genügen Krücken nicht mehr, um noch selbstständig aus dem Haus zu kommen. Die fortschreitende Lähmung der Beine zwingt sie in den Rollstuhl. Die Schmerzen sind so quälend, dass sie sich im Januar 2019 einen Neurostimulator in den Rücken implantieren lässt. Es ist eine Art Schrittmacher, der Schmerzen lindert und die Empfindlichkeit unterdrückt. Viermal täglich muss sie seinen Akku aufladen.

«Viele andere Menschen haben auch zu kämpfen. Der direkte Austausch mit diesen Menschen war für mich enorm wertvoll.»

Nicole Käslin

Nicole Kälin ist es nicht anzusehen, wenn sie leidet. Sie will ihr Umfeld nicht belasten und kaschiert ihr wahres Befinden, weil sie nicht in Verdacht geraten will, ein «Jammeri» zu sein. Um unangenehme Situationen zu vermeiden, zieht sie sich in die Wohnung zurück. Dort ist Hugo für sie da, eine Findelkatze, die seit acht Jahren bei ihr lebt. Und Hugo stellt keine Fragen. Die Schmerzen verschwinden nicht, aber Nicole Kälin entwickelt Taktiken, um einigermassen damit umzugehen. Bis Anfang 2020 bewältigt sie ein Teilpensum in einer Tierpraxis und bringt damit etwas Normalität in ihren Alltag. Aber mit Beginn der Coronapandemie ist es damit vorbei. Ein Schmerzarzt empfiehlt ihr eine Therapie mit medizinischem Hanf. Als sie wegen der Schmerzen nicht mehr aus dem Bett kommt, greift sie nach diesem Strohhalm.

30 000 Franken dank Crowdfunding

Doch die Therapie ist kostspielig, alle drei Monate werden 2500 Franken fällig. Viel Geld für sie, denn Nicole Kälin lebt jetzt von einer bescheidenen IV-Rente. Crowdfunding heisst die Lösung, mit der sie anfänglich Mühe hat, weil sie keine «Bettelaktion» starten möchte. Aber sie hat keine Wahl – und ist überwältigt von der Resonanz. An einem einzigen Wochenende kommen 30 000 Franken zusammen. Sie erhält zudem auch moralische Unterstützung in Form von Briefen und E-Mails voller warmen, wohltuenden Worten. Seither kann sie die Cannabistropfen regelmässig einnehmen.

Wenn die 29-jährige Frau in Einsiedeln im Rollstuhl unterwegs ist, machen Gerüchte die Runde, sie sei vom Pferd gefallen und deshalb gelähmt. Sie nimmt das hin. Über das Crowdfunding lernt sie, offener mit ihrer Krankheit umzugehen, und merkt, dass es gar nicht schlimm ist, zu sagen, wie es einem wirklich geht. Von den Ärztinnen und Ärzten hört sie bald einmal den Satz: «Stellen Sie sich auf ein Leben im Rollstuhl ein.» Sie nimmt ihn entgegen. Doch eine Stimme in ihr sagt: «Das kommt schon gut.»

Stark eingeschränktes Sehvermögen

Die Krankheit äussert sich nicht nur mit der Lähmung beider Beine. Betroffen ist auch das Sehvermögen. Rund zwanzig Prozent beträgt es heute noch mit Brille, was Nicole Kälin dazu veranlasst hat, ihre Wohnung so zu gestalten, dass die Kollisionsgefahr des Rollstuhls mit irgendwelchen Gegenständen auf ein Minimum begrenzt ist. Hat sie Angst vor der totalen Dunkelheit? «Ich mache mir keine Gedanken darüber», lautet die Antwort. «Mir ist es ein Bedürfnis, das machen zu können, was meine Fähigkeiten zulassen.» Sie liebt es, Brot und Guetzli zu backen, mit denen sie Gäste oder Freunde überrascht. Sie strickt, bastelt und zeichnet, obwohl ihre Augen nicht mehr richtig mitmachen. Hinter dem Küchentisch hängt ein Bild mit Telia und Diana, den zwei Pferden, die ihr alles bedeuten. Mit Telia nahm sie einen Tag vor dem Ausbruch ihrer Krankheit noch an einem Concours teil.

Nicole Kälin strickt
Nicole Kälin zeichnet

Ihre Kreativität lässt sie sich ebenso wenig nehmen wie die Lust am Lesen. Das bereitet ihr mittlerweile erhebliche Schwierigkeiten: Beim E-Book passt sie die Schriftgrösse an, eine gedruckte Zeitung hält sie nahe vor ihre Augen und schafft die Lektüre mit eisernem Willen. «Wenn ich eine Idee habe, versuche ich, sie umzusetzen», sagt sie. «Das erfordert manchmal einen grösseren Aufwand – aber es lohnt sich.» Den Bewegungsdrang lebt sie weiter aus – im Sommer mit dem Handbike, im Winter auf der Langlaufloipe.

Zweimal pro Woche steht Physiotherapie auf dem Programm, dazu einmal wöchentlich Wassertherapie. An einem Tag schwimmt sie im Hallenbad, begleitet von ihrem Gotti, Claudia Kälin. Die Belastung spürt sie anschliessend als Schmerzen, und manchmal schliesst sie bis in die Morgenstunden kein Auge. Aber der Sport gibt ihr auch ein Selbstwertgefühl, sie kann wieder ein bisschen sein wie früher. Nur auf eines verzichtet sie bewusst: auf Besuche auf der Alp ihrer Eltern. Die Erinnerung an die unbeschwerten Stunden dort oben würden zu sehr schmerzen.

Wertvolle Wochen in Nottwil

Nicole Kälin will nicht spekulieren, was in ein paar Jahren sein könnte. Resignieren ist für sie kein Thema. Mut geben ihr Wochen wie jene, die sie im Frühjahr 2022 am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) verbringt. In Nottwil lernt sie Wertvolles für ihren Alltag: Sie übt, wie sie richtig mit dem Rollstuhl umgeht und wie die Transfers besser klappen. Sie lernt, worauf sie achten muss, wenn sie mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs ist. «Das gibt mir die nötige Sicherheit», sagt sie.

In Nottwil erlebt sie zum ersten Mal auch, dass sie nicht allein mit ihren Problemen ist: «Viele andere Menschen haben auch zu kämpfen. Der direkte Austausch mit diesen Menschen war für mich enorm wertvoll.» Mit ihrer Art, das Schicksal zu tragen, beeindruckt Nicole Kälin nicht zuletzt ihre Mutter. «Ich staune, wie Nicole das macht», erzählt Rita Kälin. Anfänglich ist sie schockiert, dass ihre Tochter aus dem Nichts heraus so schwer erkrankte. Dass sie auf den Rollstuhl angewiesen ist und ihre Sehkraft nachlässt. «Als wäre die Lähmung nicht schon genug Leid.» Die Mutter hadert, stellt Fragen. Aber sie bekommt keine Antworten.

Das positive Denken der Eltern

Die ersten Monate stellen die Familie auf eine Belastungsprobe. Als Nicole im Zürcher Unispital liegt, fahren die Eltern jeden Abend nach der Arbeit von Einsiedeln zu ihr. Rita Kälin erinnert sich an die Worte ihrer Schwägerin, die an Krebs verstarb: «Wenn jemand schwer erkrankt, sagt man: ‹Es hat jetzt also mich getroffen›.» Und jetzt habe das Schicksal bei ihrer Tochter zugeschlagen: «Wir haben keine Wahl: Wir müssen die Situation so annehmen, wie sie ist.» Und Walter Kälin, ihr Mann, ergänzt: «Wir hören nicht auf, positiv zu denken.»

In den vergangenen zwei Jahren hat sich der Gesundheitszustand von Nicole Kälin rapide verschlechtert. Statt sich zu beklagen, erklärt sie, dass sie Mut schöpfe, wenn sie an ihre Pferde denke. Eines Tages will sie sich wieder wie früher um sie kümmern: «Telia und Diana warten auf mich.» Auf Besuche der beiden muss sie weitgehend verzichten – die Anreise auf den elterlichen Hof in Gross am Sihlsee bedeutet einen Kraftakt.

Nicole Kälin mit Katze
Nicole Kälin unterwegs mit Pferd

Und doch muss sie nicht ganz ohne Pferd auskommen. Unweit ihrer Wohnung beim Kloster Einsiedeln liegt die Stallung von Da Vinci, das Pferd ihrer Reitlehrerin und Freundin Bea Bisig. Zwischen Da Vinci und Nicole Kälin hat sich eine enge Bindung entwickelt. «Wenn ich bei ihm sein darf, gibt mir das unglaublich viel Kraft», sagt sie. Bea Bisig fügt an: «Die beiden passen gut zusammen. Es ist wunderbar zu beobachten, wie sie sich freuen, wenn sie sich sehen.»

Die Tage enden früh

Überhaupt ist Bea Bisig beeindruckt, wie ihre Freundin ihr Schicksal trägt. «Sie ist eine unglaublich starke Frau», sagt sie. «Von ihrer Einstellung könnten sich viele Menschen eine Scheibe abschneiden.» Auch der Reitlehrerin tut es weh, wenn Nicole Kälin leiden muss: «Sie muss unmenschliche Schmerzen aushalten», sagt sie. Die Schmerzen geben oft den Tagesrhythmus vor. Um 18 Uhr liegt Nicole Kälin in der Regel bereits im Bett, dafür ist sie um 6 Uhr wieder wach. Am Morgen befindet sie sich in einer deutlich besseren Verfassung als am Abend.

Der Glaube an eine Wende in ihrem Leben ist unerschütterlich. «Nächste Woche ist alles wieder gut» – wie oft hat sie sich das schon eingeredet. Und heute? «Es kommt gut», sagt sie. «Ich bin überzeugt. Dafür kämpfe ich jeden Tag.» Und wird es nächste Woche wirklich besser? «Vielleicht übernächste…», sagt sie mit einem Lächeln. Zwei Dinge verliert sie nicht: den Humor und die Hoffnung.

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