
Unter Wasser wartet die Freiheit
Nach einem Verkehrsunfall kämpft Tanja Odermatt um ihr Leben. Die 31-jährige Paraplegikerin meistert manche Krise – mit Unterst ützung ihrer Familie und ihres Freundes, den sie als «Mann aus Gold» bezeichnet.
Text: Peter Birrer
Fotos: Sabrina Kohler
Videos: Astrid Zimmermann-Boog
Tanja Odermatt fährt sanft durchs Fell von Chnuschti, der auf ihrem Schoss schnurrt. «Er und seine Schwester Tapsi sind meine stillen Psychologen», sagt sie über ihre zwei Büsis, die schon oft mitgeholfen haben, ein emotionales Tief zu überwinden. Zum Beispiel wenn sie die Frage quält: Warum musste das passieren?
«Ich bin dankbar, noch da zu sein», sagt die 31-Jährige aus Rain LU. «Körperlich und mental hat sich meine Verfassung stabilisiert.» Aber sie will nicht verschweigen, dass es Momente gibt, in denen sie mit ihrer Situation hadert. Drei Viertel ihres Körpers spürt die junge Frau nicht mehr. Ihre Sehnsucht nach Sensibilität ist stärker als der Wunsch, wieder gehen zu können: «Am Meer den feinen Sand zwischen den Zehen wahrnehmen, Gefühl in den Beinen haben …» Sie bricht ab. Und streichelt Chnuschti.

Das starke Duo mit den beiden «Psychologen» Tapsi und Chnuschti.
Plötzlich verliert sie das Bewusstsein
Freitagnachmittag, der 19. Oktober 2018, das Wochenende naht. Am Abend will sie mit ihrem Freund die erste gemeinsame Wohnung besichtigen. Tanja Odermatt, gelernte Coiffeuse, arbeitet bei der Post in Baar ZG und möchte vor dem Wochenende noch diesen einen Brief zustellen. Erledigt ist erledigt.
Auf dem Rückweg mit dem Töffli geschieht, was sie nur aus Erzählungen weiss. Gegen 17.15 Uhr verliert sie plötzlich das Bewusstsein und sackt zusammen. Das Gefährt steuert unkontrolliert auf die Gegenfahrbahn, frontal in ein Auto. Dessen Lenker hatte realisiert, dass mit der Rollerfahrerin etwas nicht stimmt, und sofort gebremst. Nach dem Zusammenprall schäumt Tanja Odermatt aus dem Mund. Ihr Becken ist zertrümmert, der vierte Rückenwirbel und mehrere Knochen sind gebrochen, Nervenbahnen wurden wie eine Spirale gedreht und gequetscht, Blutgefässe schwer beschädigt.
Am Universitätsspital Zürich wird sie notoperiert und in ein künstliches Koma versetzt. Warum sie auf der Strasse ohnmächtig geworden ist, bleibt bis heute ein Rätsel. Vermutlich hatte sie einen epileptischen Anfall.
Auch für die Angehörigen folgen dramatische Stunden. Zwei Polizisten überbringen Rita Odermatt die Nachricht, dass ihre Tochter ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten habe. Das löst Ängste aus. Die zwei stehen sich sehr nahe. Als die Mutter sie spät am Abend regungslos im Spitalbett sieht, macht sie die schlimmsten Momente ihres Lebens durch: «Die Ungewissheit, ob Tanja durchkommt, war furchtbar.» Eine Stütze ist Günther Töngi, der Lebenspartner der Mutter, der die Familie am Unfalltag nach Zürich fährt und jederzeit klaren Kopf bewahrt.
«Habe ich jemanden verletzt?»
Ihre Liebsten weichen nicht mehr von ihrer Seite. Nach drei Tagen Bangen gibt es den ersten Hoffnungsschimmer. Nach fünf Tagen holen die Ärztinnen und Ärzte Tanja Odermatt aus dem Koma. Eine der ersten Fragen: «Mama, bin ich kaputt?» Antwort: «Nein. Es ist alles noch da.» Als sie erfährt, was geschehen ist, will sie wissen: «Habe ich jemanden verletzt?» Das Nein sorgt für grosse Erleichterung.
Am 1. November 2018 wird Tanja Odermatt ans Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil verlegt. Sie hat eine Querschnittlähmung. Aber sie lebt und bewältigt dank ihrem Kampfgeist eine Phase, die sie psychisch ans Limit bringt. Ein erst in Nottwil entdeckter Dekubitus am Gesäss zwingt sie dazu, während mehr als vier Monaten aus schliesslich seitlich zu liegen. Die Pflegenden lagern sie alle zwei Stunden um, auch nachts. Ihre Mutter ist eine unverzichtbare Stütze, die mit ihr weint und manchmal auch lacht, wenn sie etwa eine Gesichtsmaske aufträgt, um die unreine Haut zu bekämpfen. Ihr Bruder Roman verbringt fast jede freie Minute am Spitalbett. Und ihr Partner Marcel Huwiler gibt temporär sogar seine Stelle als Koch auf. Er hilft für ein halbes Jahr in einer Schreinerei, um jeden Abend bei Tanja sein zu können.
120 Kilo nach der Reha
In zehn Monaten in Nottwil macht die Luzernerin viel durch, auch psychisch. Aus lauter Frust und Langeweile isst sie viel Süsses und bemerkt kaum, wie sich das auf ihr Gewicht auswirkt. Sie hat Angst, dass sie ihren Alltag ohne fremde Unterstützung nicht bewältigen kann. Als Tanja Odermatt das SPZ verlässt, wiegt sie 120 Kilo, über 40 Kilo mehr als vor dem Unfall. Sie benötigt einen angepassten Rollstuhl, tut sich schwer mit selbstständigen Transfers, findet kaum passende Kleider. Die Ärztinnen und Ärzte empfehlen ihr eine Magenbypass-Operation. 2020 erfolgt der Eingriff, der ihr Lebensqualität und ein neues Körpergefühl zurückgibt.
Anfänglich lebt Tanja Odermatt bei ihrer Mutter in Büren NW, die mit fünfzig Jahren noch eine Pflegeausbildung absolviert hat und dazu beiträgt, dass die Tochter relativ sanft im Alltag ausserhalb des SPZ ankommt. Nach einem halben Jahr zieht sie mit ihrem Freund zusammen, schliesst eine Lehre zur kaufmännischen Angestellten ab und schafft sich neue Berufsperspektiven. Seit Juni 2024 arbeitet sie bei der Stiftung für selbstbestimmtes und begleitetes Leben in Rathausen LU.
«Ich habe fast einen Menschen verloren, der mir alles bedeutet.»
Glücksgefühle beim Tauchen
Und dann ist da noch ein Hobby, das Tanja Odermatt und ihr Partner schon vor dem Unfall entdeckt haben, in den Ferien auf Bali: das Tauchen. Marcel Huwiler schenkt ihr zu Weihnachten 2018 einen Schnupperkurs bei der Handicapped Scuba Association, einer Organisation, die Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung den Zugang zum Tauchsport ermöglicht. Es ist eine Botschaft, dass sich auch mit einer Querschnittlähmung die Grenzen verschieben lassen.
Im Frühjahr 2021 wagt sie sich in einem Hallenbad ins Wasser. Als sie das erste Mal wieder auftaucht, hat sie vor lauter Glück Tränen in den Augen: Es funktioniert tatsächlich! Dank Beharrlichkeit und mentaler Stärke kommt sie zügig voran und besteht die Prüfung, bis dreissig Meter Tiefe zu tauchen. Ihr Tauchlehrer Beat Reichen beobachtet begeistert die Entwicklung der Schülerin. Er spürt, wie sich ihr Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein steigern: «Unter Wasser ist sie zu gleichem fähig wie eine Fussgängerin.»
Beim Tauchen trägt sie einen massgeschneiderten Neoprenanzug sowie Handflossen. Ein Tauchscooter mit Elektroantrieb erleichtert die Fortbewegung. Stets dabei ist «mein Mann aus Gold», wie sie Marcel Huwiler liebevoll nennt, und betont: «Er ist mein Partner, nicht mein Pfleger.» Als Taucherin kann Tanja Odermatt ihre Querschnittlähmung ausblenden: «Ich empfinde da Freiheit», sagt sie. Stundenlang kann sie im Meer unterwegs sein und die bunte Welt bestaunen. Schon manches Abenteuer hat sie erlebt, auf den Philippinen, in Ägypten, auf Curaçao oder in Thailand.

Tanja erzählt in der aktuellen Staffel des Podcasts «Querschnitt» der Schweizer Paraplegiker-Stiftung ihre bewegende Geschichte.

Tiefe Dankbarkeit des Partners
Seit 2017 sind die beiden ein Paar. Nach dem Unfall spricht Tanja Odermatt offen darüber, ob sich Marcel Huwiler unter den veränderten Umständen eine gemeinsame Zukunft überhaupt noch vorstellen könne. «Ich wollte nicht auf dem falschen Fuss erwischt werden», sagt sie. «Und ich hätte es verstanden, wenn Marcel einen Schlussstrich gezogen hätte.»
Doch der 33-Jährige denkt nie an eine Trennung. Er erinnert sich an den Abend des 19. Oktober 2018, an die beklemmende Atmosphäre auf der Fahrt nach Zürich, an den Anblick von Tanja in der Klinik, an die Ungewissheit: Wird sie es schaffen? Und muss sie mit bleibenden Hirnschäden leben?
Als seine Freundin ihn erkennt, fällt ihm ein Stein vom Herzen. Und als sie nach Nottwil gebracht wird, erfüllt ihn ein Glücksgefühl: «Da wusste ich: Jetzt geht es bergauf. Das war das grösste Geschenk für mich. Ich habe fast einen Menschen verloren, der mir alles bedeutet. Umso dankbarer bin ich.»


«Zwischendurch mal blöd tun mit ein bisschen Rambazamba, das darf auch jetzt noch sein.»
Rambazamba darf sein
Und wie ist das Leben heute? «Interessant, spannend und voller cooler Herausforderungen», antwortet er. «Wir können zwar nicht alles wie früher machen. Aber mit etwas Kreativität und Mut ist sehr viel möglich.» Oft ergreift Tanja die Initiative, um etwas zu unternehmen. Sie sei enorm ehrgeizig und beharrlich, wenn sie Neues ausprobiert, sagt Marcel Huwiler: «Sie ist ein sehr herzlicher Mensch und setzt sich anspruchsvolle Ziele.»
Tanja Odermatt hätte gerne eigene Kinder und ein Haus, sie wünscht sich ein Leben, in dem sie ihre Möglichkeiten optimal ausschöpfen kann. Oberhalb der Operationsnarbe auf dem Rücken hat sie ihr Motto tätowieren lassen: «Life is a gift», das Leben ist ein Geschenk. Dazu das Datum, an dem ihr Leben ein Wende nahm, sowie Tinker Bell, die Fee aus den «Peter Pan»-Filmen, die für sie das Unbeschwerte symbolisiert. «Zwischendurch mal blöd tun mit ein bisschen Rambazamba, das darf auch jetzt noch sein.»
Ihre Entwicklung erfüllt die Familie mit Stolz: «Tanja hat es gepackt. Ihre positive Einstellung ist bewundernswert», sagt etwa Mutter Rita. Und ihr Bruder Roman ergänzt: «Ich habe riesigen Respekt vor ihrem nie erlahmenden Kampfgeist. Sie freut sich über Dinge, die sie trotz ihrer Einschränkung noch tun kann. Marcel Huwiler ist einer der wichtigsten Gründe, dass Tanja diesen schwierigen Weg hinter sich gebracht hat.»
Das Tagebuch wühlt auf
Die Anfänge des beschwerlichen Wegs haben Angehörige, die Ärzteschaft und Pflegende in einem Tagebuch dokumentiert, in dem sie ihre Beobachtungen und Emotionen festhielten. Das Buch bewahrt Tanja Odermatt zu Hause auf, aber sie schafft es noch nicht, es allein zu lesen. «Die Texte wühlen mich extrem auf», sagt sie.
Mit Nottwil verbindet sie primär Positives, obwohl die Folgen des Dekubitus ein Alptraum waren. «Ich habe viele der Menschen, die mich betreut haben, gern bekommen», sagt sie. Besuche im SPZ fühlen sich heute an wie ein Nachhausekommen – seit Ende 2022 noch etwas mehr, weil ihr Freund jetzt als Koch hier arbeitet. Tanja Odermatt strahlt Zufriedenheit aus. Sie hat sich in ihrem neuen Leben zurechtgefunden. Und wenn sie einmal eine emotionale Baisse meistern muss, hat sie die Gewissheit, in ein starkes Umfeld eingebettet zu sein. «Ja. Und du gehörst natürlich auch dazu», sagt sie – und streichelt ihren stillen Psychologen Chnuschti.

Sie weiss sich mit Kreativität zu helfen: Tanja Odermatt beim Wäscheaufhängen.
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