Der Kampf, Aus der Stille heraus (2/6)
Der 24. Mai 1992 markiert ein Vorher und ein Nachher im Leben der Familie Willemin. Ein Leben, das an das Leben von Floriane geknüpft war. Die Mutter Marie-Andrée gab nie auf und entdeckte ungeahnte Ressourcen.
Es war ein Sonntag und das Wetter war schön. Sonntag, der 24. Mai 1992, erzählt Marie-Andrée Willemin. Die Schwere der Stunde, die Präzision des Augenblicks. Ein Blitz in einem blauen Himmel. Ein Donnerschlag in der jugendlichen Sorglosigkeit von Aline (14 Jahre) und Fabrice (11 Jahre). Aline, Florianes jüngere Schwester, sieht sich auf dem Kirchplatz des Dorfes ihrer Kindheit, in Saulcy, mit einer Freundin ein Eis essen. In Abwesenheit ihrer Eltern, die - Ironie des Schicksals - ihre neugeborene Cousine besuchten, wurde sie von der Polizei schonungslos über den Unfall ihrer älteren Schwester informiert, die mit dem Hubschrauber nach Bern geflogen wurde. Als die Willemins im Inselspital ankamen, erkannten sie sofort den Ernst der Lage. «Floriane hatte keine offensichtlichen Verletzungen, aber sie lag im Koma, mit einem Ödem, das ihr Gehirn zusammendrückte», erinnert sich Marie-Andrée mit einem Zittern in der Stimme. Ich höre immer noch das Geräusch der Sonde, die ihren Hirndruck gemessen hat.» Die Mediziner machen ihnen wenig Hoffnung. «Vielleicht wird sie eines Tages selbstständig atmen, vielleicht wird sie die Augen öffnen», sagt der Arzt zu ihnen. Drei Wochen später wird die Jugendliche, die ausser Lebensgefahr ist, nach Delémont verlegt. Zunächst auf die Intensivstation, dann auf die medizinische Station. Bald öffnete sie die Augen und atmete im September, als die Kanüle des Tracheostomas entfernt wurde, selbstständig.
Das Haus und das Krankenhaus
Marie-Andrée Willemins Alltag ist geprägt von einem ständigen Hin und Her zwischen dem Krankenhaus und ihrem Leben in Saulcy. Da sie darauf bedacht ist, das familiäre Gleichgewicht zu wahren, hat sie kaum noch Zeit für sich selbst. Heute gibt sie zu: «Man fragt sich, wie ich das durchgestanden habe. Aber man hat ungeahnte Ressourcen, man bekommt Kraft.» Zur Kämpferin gemacht, wacht sie unablässig über das Wohlergehen ihrer Tochter. Einem Arzt, der ihre Tochter am Fussende ihres Bettes als «Gemüse» bezeichnet, antwortet sie: «Sie sagen alles vor ihr, Sie wissen nicht, was sie hört und was sie versteht.»
Gezielte Reaktionen
Bei ihren fast täglichen Besuchen bemerkte sie bald eine Veränderung. «Ich massierte ihr die Füsse, als ich eines Tages eine Reaktion spürte. Ich meldete es sofort der Ärzteschaft, aber man glaubte ich halluziniere.» Marie-Andrée Willemin, die in den folgenden Jahren mehrmals nach dem geringsten Anzeichen Ausschau hält, ist überzeugt, dass ihre Tochter sich nicht in dem vegetativen Zustand und später im minimalen Bewusstsein befindet, für das sie gehalten wird. Je nachdem, wer durch die Tür kommt, lächelt sie, erzählt sie. Dasselbe gilt, wenn ihr Bruder Fabrice den Clown spielt. Sie ist überzeugt, dass sie gezielt lächelt und weint.
Ungeeignetes Umfeld
Doch schon bald sind die Versicherungen der Meinung, dass Floriane nicht mehr in die Medizin gehört: Sie wird in eine Langzeitpflegeeinrichtung für ältere Menschen überwiesen. Fabrice, der 41-jährige Informatiker, fasst zusammen: «Ein ungeeignetes Umfeld». Von abends bis morgens und von morgens bis abends ist Floriane bettlägerig. Es waren schwere Stunden, erinnert sich ihre Mutter, die vergeblich forderte, dass man ihre Tochter hinsetzte. Trotz der grossen Menschlichkeit der meisten Pflegekräfte gibt es Verhaltensweisen, die nur schwer zu überwinden sind. Zum Beispiel das Verhalten einer Betreuerin, die «Floriane mit gefesselten Armen festhält, damit sie nicht den Schlauch der Magensonde herausreisst. Sie beschwert sich, dass Floriane ihr zu viel Mühe mache und ermutigt die Mutter, Floriane wieder mit nach Hause zu nehmen.» (Anm. d. Red.: obwohl sie schwer behindert ist). Aline, die 44-jährige Schwester der Ergotherapeutin, blickt 30 Jahre zurück: «Natürlich wurde sie falsch eingewiesen, aber man muss sich in den Kontext der damaligen Zeit zurückversetzen, die Betreuung war anders. Man wusste nicht, wie das Gehirn heute funktioniert, man wusste nicht, dass es sich erholen kann.»
Wochenenden in Saulcy
Im Oktober 1994 wurde Floriane in die REHAB-Klinik in Basel eingewiesen, die auf neurologische Rehabilitation und Querschnittslähmung spezialisiert ist. Der neunmonatige Aufenthalt trug zur Verbesserung ihrer Lebensqualität bei: Sie erhielt eine Kopfstütze und einen Rollstuhl. «Einmal im Monat lieh uns der Garagist des Dorfes einen Bus, den er umgebaut hatte. Mein Vater, der sich ebenfalls sehr engagierte und ich holten Floriane für das Wochenende ab», erinnert sich Fabrice. «Ich habe während der Fahrt ihre Hand gehalten.» Eine ständige Aufmerksamkeit, Besuche von Familie und Freunden, kleine Gesten, die zusammengenommen dazu beitragen, dass Floriane nicht untergeht. Dafür ist sie ihnen dankbar. «Ich liebe dich» gehörte zu den ersten Worten, die sie schrieb. Ihre Mutter ist überglücklich über diese Entwicklung. Nun geniesst es das Trio wieder, mit Floriane kommunizieren zu können. «Früher haben wir sie zwar als präsent empfunden, aber wir hätten nicht gedacht, dass sie so präsent ist. Das ändert auch die Art und Weise, wie wir sie betrachten», fährt sie fort. «Früher dachten wir, dass sie gerne ins Restaurant geht. Jetzt wissen wir, dass sie gerne ins Restaurant geht». Und vor allem: Seit sie sich verstanden fühlt und kommunizieren kann, wirkt Floriane auf sie viel erfüllter. Das Geniale an dieser Geschichte ist, dass sie wieder einen Platz als Person einnimmt», sagt Fabrice. Dass sie ihre Meinung äussern kann, dass sie sagen kann, was sie will und was sie nicht will, wenn auch unter grossen Anstrengungen.
© Dieser Artikel wird mit der Genehmigung der Editions D+P SA, der Verlagsgesellschaft des Quotidien Jurassien, 4. Oktober 2022, veröffentlicht.
Werden Sie jetzt Mitglied und erhalten Sie im Ernstfall 250 000 Franken.