
Leben ohne Lautsprache - Andrea Eisenring ist eine von Tausenden Menschen in der Schweiz, die sich nicht über Lautsprache ausdrücken können. Was nicht heisst, dass sie nichts zu sagen hat.
Sagen, was man gerade möchte. Sagen, was einem nicht passt. Sagen, wie es einem geht. Oder auch einfach nur fragen, wenn man etwas wissen möchte. Was für den Grossteil der Menschen selbstverständlich ist: Für Andrea Eisenring ist es das nicht. Zwar ist die 49-jährige Lotzwilerin ein Mensch wie andere Menschen auch. Sie mag Tiere und die Farbe Lila. Sie freut sich auf Ausflüge und zieht sich auch gern mal zurück. Anders als die meisten Menschen ist sie aber rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen.
Eine Hirnschädigung im Babyalter hat sie in ihren Fähigkeiten stark eingeschränkt. Sie benötigt Unterstützung, um sich zu bewegen. UndAndrea Eisenring kann nicht sprechen. Um sich auszudrücken, braucht sie deshalb andere Mittel. Unterstützte Kommunikation nennt man das im Fachjargon. Gemeint sind alle möglichenVerständigungshilfen vom einfachen Foto oder Symbolkärtchen über Gebärden bis hin zum hoch entwickelten Sprachcomputer.

Ein Unfall, Autismus oder eine Cerebralparese
Andrea Eisenring ist kein Einzelfall. In der Schweiz können sich Tausende Menschen nicht in Lautsprache ausdrücken. Die Gründe sind verschieden. Ein Unfall zum Beispiel. Eine neurologische Entwicklungsstörung. Autismus. Oder wie bei Andrea Eisenring: eine Cerebralparese. Ihnen will eine Gruppe von Betroffenen, Eltern, Netzwerkerinnen und Fachleuten mit einer Petition an den Bundesrat mehr Mitsprache und Teilhabe ermöglichen. Ihre Forderung: dass Unterstützte Kommunikation zum festen Bestandteil wird in der Ausbildung all jener Fachkräfte, die mit Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten. Damit alternative Kommunikationsformen nach und nach zur Selbstverständlichkeit werden in der ganzen Gesellschaft. Noch sind sie das nicht. Obwohl Unterstützte Kommunikation in der Heilpädagogik und in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung schon lange angewandt wird, fristet sie in der Ausbildung des Fachpersonals immer noch ein Schattendasein. Entsprechend personenabhängig ist der Einsatz von alternativen Kommunikationsmitteln im Alltag von jenen Menschen, die auf Betreuung oder eine Assistenz angewiesen sind.
Ein augengesteuerter Sprachcomputer
«Nach all meinen bisherigen Erfahrungen zum Thema Integration ist es von zentraler Bedeutung, offene Menschen zu finden, die bereit sind, sich auf etwas Neues einzulassen», meinte die deutsche Rehabilitationswissenschaftlerin Kathrin Lemler einmal in einem Interview. Sie kann wegen einer Cerebralparese ebenfalls nicht selber sprechen, ist rund um die Uhr auf Assistenz angewiesen. Trotzdem ist sie seit Jahren als Referentin und Autorin tätig.
Der Werdegang der Wissenschaftlerin ist zweifellos aussergewöhnlich. Ihr Hilfsmittel indes ist immer verbreiteter: ein augengesteuerter Sprachcomputer. Eine Infrarotkamera verfolgt dabei die Bewegungen von Lemlers Pupillen und löst so auf dem Bildschirm bestimmte Buchstabenfelder aus. Über eine synthetische Sprachausgabe kann sie ihre Aussagen dann in Lautsprache umwandeln.
«Dass Andrea Eisenring selber ganze Wörter formulieren kann, war uns völlig neu.»