Murat Pelit auf dem Sit-Wakeboard

Aktivitäten mit Suchtpotenzial

In der Freizeit sollte man nicht unfreiwillig zu Hause sitzen müssen, weil geeignete Angebote fehlen. Wie unterstützt die Schweizer Paraplegiker-Gruppe dabei Personen im Rollstuhl?

Text: Stefan Kaiser
Fotos: zVg; Sabrina Kohler

Wer Freizeitangebote für Menschen mit Querschnittlähmung sucht, stösst bald auf eine breite Palette an Sportaktivitäten. Das ist kein Zufall. Denn Sport fördert nicht nur den regelmässigen Austausch mit anderen Betroffenen. Er ist auch wichtig, damit sie im Alltag besser mit ihren Einschränkungen umgehen können. Ein gestärkter Körper beugt Folgeerkrankungen vor und erleichtert die vielen Transfers in den Rollstuhl.

Für den 41-jährigen Murat Pelit ist Sport ein Teil seines Lebens. Bereits als Kind springt der Tessiner mit Rollschuhen von Mauern, er spielt Eishockey und fährt Snowboard. Mit 21 Jahren wird bei ihm ein Tumor am Kreuzbein entdeckt. Die Folge sind zahlreiche Operationen und eine inkomplette Paraplegie. Während der Rehabilitation in Nottwil denkt Pelit ständig an seine geliebten Berge – und entdeckt den Monoskibob.

Als Wettkämpfer erhält er den Spitznamen «Bode Miller des Para-Ski»: Auf Topklassierungen folgen spektakuläre Ausfälle. «Sport ist auch eine Lebensschule», sagt er. «Ich bin dabei als Person gewachsen.» Seine Karriere beendet Murat Pelit nach den paralympischen Spielen 2022. Er hat jetzt eine Familie im Kopf.

Dank Sport zum Naturerlebnis

Seit 2018 führt der Tessiner Kurse für Menschen mit Einschränkungen durch und hat dafür die Firma und Stiftung Ti-Rex Sport gegründet. Er sagt: «Ich wollte auch anderen Betroffenen die Möglichkeit geben, an diesen Emotionen teilzuhaben, etwas Neues auszuprobieren und die Berge und die Natur zu geniessen.» Über Stock und Stein fahren seine Offroad-Downhill-Handbikes. Und für den Adrenalinkick auf dem Wasser hat er Sit-Wakeboards.

Auch im Auftrag der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) gibt Pelit Kurse. «Wir können nicht alles von Nottwil aus abdecken», erklärt Thomas Hurni, der in der SPV den Bereich Breitensport – Freizeit – Gesundheit leitet. Sein Team will dazu motivieren, lebenslang Sport zu treiben und sich zu bewegen. Jeder Mensch soll in der Freizeit etwas erleben dürfen und Gleichgesinnte treffen, sagt Hurni. «Doch der Weg hinaus in die Natur ist für Menschen mit Querschnittlähmung gar nicht so einfach.»

«Sport ist eine Lebensschule: Ich bin als Person gewachsen.»

Murat Pelit

Hier hilft die SPV. Im Bereich Breitensport zeigt sie Kindern, was im Rollstuhl alles möglich ist. Erwachsene haben auch Zugang zu Adrenalin-Sportarten und Wettkämpfen. Und bei älteren Menschen steht das Rundum-sorglos-Paket im Vordergrund. Zudem gibt es jährliche Events für aufwändig zu organisierende Sportarten wie Wasserski. Dieses Angebot wird nach den Bedürfnissen der Betroffenen ständig weiterentwickelt und schliesst die Rollstuhlclubs in den Regionen mit ein.

Polizeieskorte durch Bern

Um Sport treiben zu können, benötigen Menschen mit Querschnittlähmung angepasste Geräte. Die technologische Entwicklung verschiebt dabei immer mehr Grenzen. Ein Höhepunkt im Winter war die Einführung des Tetra-Skis, mit dem auch hochgelähmte Personen Zugang zum Wintersport haben. Und für die jüngere Generation steht die Trendsportart WCMX bereit – hier werden mit dem Rollstuhl in einem Skatepark Tricks aufgeführt.

Ein weiterer Höhepunkt ist der «Giro Suisse», eine inklusive Handbike-Tour in dreizehn Etappen quer durch die Schweiz. Der organisatorische Aufwand für das barrierefreie Erlebnis ist immens. Doch die Begegnungen unterwegs und das Strahlen der Teilnehmenden entschädigen das Team für jede Überstunde. Als die Handbike-Gruppe 2020 von Bundesrätin Viola Amherd empfangen wurde, haben Motorradpolizisten sie mit Blaulicht durch Bern geleitet. «Das war unglaublich», schildert Thomas Hurni. «Wir fuhren wie Staatsgäste durch die Stadt, über jedes Rotlicht und den Bahnhofplatz hinweg.»

Murat Pelit auf dem Handbike

Begehrtes Reiseangebot

Mit der gleichen Leidenschaft kümmert sich Hurnis Team um die Bereiche Kultur und Reisen. Etliche Museen, Theater und Kinos sind heute barrierefrei zugänglich, so kann sich die SPV auf Bereiche fokussieren, die für einzelne Personen schwieriger abzuklären sind. Aktuell läuft ein Pilotprojekt mit der Klubschule Migros im Bereich Weiterbildung. Es präsentiert auf einer Website ausgewählte Kurse an Orten, die barrierefrei zugänglich sind und ein geeignetes Rollstuhl-WC haben. Generell möchte man Hemmschwellen senken und Hürden abbauen, sagt Thomas Hurni. «Unsere Kurse sollen sensibilisieren und Hilfe zur Selbsthilfe bieten.»

Barrierefreie Gruppenreisen für die Mitglieder sind seit vielen Jahren eine Pionierleistung aus Nottwil. Die SPV veranstaltet jährlich rund zwanzig Gruppenreisen für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Reiseziele sind ferne Länder, angesagte Städte, das Meer oder die Berge. Zudem führt die SPV einzigartige Tetraentlastungswochen durch. Sie ermöglichen hochgelähmten Personen eine von Pflegefachleuten und Freiwilligen begleitete Reise, während ihre Angehörigen zu Hause eine Auszeit von den Pflegeaufgaben nehmen können.

Das Reiseangebot der SPV ist begehrt und oft rasch ausgebucht. Die Teilnehmenden sind froh, dass ihre spezifischen Anforderungen als Menschen mit Querschnittlähmung abgedeckt sind und dass sie nicht plötzlich an einem fremden Ort vor unlösbaren Problemen stehen.

Oase im Klinikalltag

Auch innerhalb der Spezialklinik in Nottwil ist Freizeit ein Thema. Eine Rehabilitation am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) dauert in der Regel sechs bis neun Monate, da wird das SPZ für die Patientinnen und Patienten eine Art Zuhause, wo sie die Zeit zwischen den Therapien verbringen und sich um Privates kümmern. Unterstützt werden sie dabei vom Atelier für Gestaltung.

Jeweils morgens findet dort im Rahmen der Berufsfindung ein erster Schritt zurück in die Arbeitswelt statt – mit kreativen Tätigkeiten, die den Betroffenen Engagement, Selbstständigkeit und Verantwortung abverlangen. Am Nachmittag steht das Atelier dann allen stationären Patientinnen und Patienten offen. Ohne Termin kommen sie vorbei, nutzen die Infrastruktur und erhalten Hilfe bei der Umsetzung ihrer Ideen.

Als therapiefreie Zone ist das Atelier für Gestaltung eine Oase im Klinikalltag. Einige nutzen das Angebot wöchentlich, andere kommen
täglich vorbei. Besonders beliebt ist das Atelier am Weekend. «Viele entdecken hier die kreative Welt», sagt die Leiterin, Christine Meyer. Mit ihren drei Mitarbeiterinnen unterstützt sie das Einrichten der Arbeitsplätze und das Anpassen von Hilfsmitteln wie Handmanschetten, an denen Stifte und Pinsel befestigt werden. «Wir helfen, körperliche Grenzen zu überwinden und schaffen damit Erfolgserlebnisse», sagt sie. Dabei muss das Team oft erfinderisch sein.

Zwei Menschen am arbeiten und basteln

Ablenkung vom Schmerz

Die Patientinnen und Patienten nutzen die ganze Bandbreite an kreativen Ausdrucksformen. Männer sind generell etwas zurückhaltender, wenn es um Kreativität geht. Haben sie das Feld entdeckt, arbeiten sie oft mit Holz, Speckstein und Ton. Frauen lieben es eher, Schmuck herzustellen, Bilder zu malen oder Geschenke zu basteln. Dabei zeigt sich ein wertvoller Nebeneffekt, erzählen die Betroffenen: Mit der Konzentration auf die kreative Aufgabe werden sie für eine gewisse Zeit von ihren chronischen Schmerzen abgelenkt – und können im Kopf loslassen.

«Der wertvollste Aspekt meiner Arbeit ist es, den Menschen Hoffnung zu geben.»

Christine Meyer

«Wir sind Teil eines umfassenden Rehabilitationsprozesses, der nicht nur das Körperliche behandelt, sondern auch das Psychische – und die Seele», sagt Christine Meyer. «So finden die Leute wieder zurück ins Leben.» Nicht selten entstehen beim ungezwungenen Zusammensein im Atelier neue Freundschaften. Nach ihrem Austritt kommen ehemalige Patientinnen und Patienten gerne auf einen Schwatz vorbei, wenn sie in Nottwil sind, und bringen Geschenke.

Das Team erlebe eine grosse Dankbarkeit, sagt die Leiterin des Ateliers und schildert einen besonders bewegenden Moment: «Ein Patient sagte: ‹Ohne euch hätte ich das hier nicht überstanden›.» Für Christine Meyer ist dies der wertvollste Aspekt ihrer Arbeit: die Möglichkeit, den betroffenen Menschen Hoffnung zu geben.

Soziales Engagement

Nach seinem Rücktritt vom Spitzensport entdeckt Murat Pelit eine neue Leidenschaft: Tontaubenschiessen. Bereits trainiert er fünf bis sechs Tage pro Woche für sein grosses Ziel, die Teilnahme an den Paralympics 2028 in Los Angeles.

Doch seine Freizeit besteht nicht nur aus Sport. Seit zwanzig Jahren ist er Vizepräsident des Vereins Esperance ACTI, der humanitäre Projekte in Vietnam finanziert. Schon achtzehn Schulen wurden mit dessen Hilfe gebaut, Hunderte von Wasserpumpen für Familien sowie eine Brücke. «Das ist etwas, das ich wirklich mit Liebe mache», sagt Murat Pelit, «wir alle engagieren uns freiwillig.» So findet seine ungebremste Energie im sozialen Engagement ein weiteres Feld, um die freie Zeit sinnvoll zu nutzen.

Jeden zweiten Tag wird ein Mensch in der Schweiz querschnittgelähmt.

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