Schweizer Paraplegiker Zentrum Hippotherapie

Eine Einheit werden

Die Bewegungen des Pferderückens eignen sich perfekt zur Therapie: Sie lockern die verkrampfte Muskulatur, unter der viele Menschen mit Querschnittlähmung leiden, und kräftigen sie.

Text: Stefan Kaiser
Bilder: Walter Eggenberger

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen mit einer Querschnittlähmung nicht im Rollstuhl, sondern auf einem Pferd – und dann sollen Sie erst noch Ihre Arme seitlich ausstrecken. «Das braucht definitiv Mut», sagt Deborah Luternauer. «Aber es ist ein tolles Gefühl, wenn man nach wenigen Metern spürt, wie alles zusammenpasst.» Das Erfolgserlebnis stärke sowohl das Vertrauen in den eigenen Körper als auch dasjenige ins Pferd, das bei dieser Übung konzentriert mithilft, erklärt die 26-jährige Lehrerin aus Möhlin AG.

Ich hatte oft Angst, dass ich ersticke. 

Deborah Luternauer

Es geschah an Weihnachten vor einem Jahr. Beim Wandern im Tessin stolpert die junge Frau, rutscht 700 Meter ein Schneefeld hinunter und verletzt sich ihr Rückenmark im Halswirbelbereich. Die Diagnose: Tetraplegie. Die Verunfallte wird in Lugano operiert und zur Rehabilitation ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) nach Nottwil verlegt. Die erste Zeit war schwierig, sagt sie: «Als hochgelähmte Tetraplegikerin konnte ich die Arme nicht bewegen und nicht selbstständig essen. Ich konnte schlecht schlucken und hatte oft Angst zu ersticken, wenn mir etwas im Hals steckenblieb.» Die Erleichterung ist gross, als sich ihre Tetraplegie als inkomplett erweist und mit der Zeit einige Körperfunktionen zurückkommen. Zuerst kann sie den Arm wieder bewegen, dann das Bein strecken, später einzelne Finger. «Eine Pflegerin ermutigte mich, es immer wieder zu versuchen: Ich konzentrierte mich auf den Finger und dachte: ‹Bewege dich jetzt› – und irgendwann zuckte er.» Es war der Anfang. Heute kann sie ihre Hand wieder selbstständig nutzen.

Schweizer Paraplegiker Zentrum Pferdegestützte Therapie

Rasche Verbesserungen

Wie viele Menschen mit einer Querschnittlähmung kämpft auch Deborah Luternauer mit einer hohen Muskelspannung (Tonus) und unwillkürlichen Bewegungen (Spasmen). Wenn sie ruhig sitzt, werden die Spasmen stärker; bewegt sie sich, nehmen sie ab. Deshalb empfiehlt ihr die Physiotherapeutin eine Hippotherapie. Die Patientin hat Respekt vor Pferden und steht der Sache zunächst kritisch gegenüber. «Beim ersten Mal konnte ich nicht einmal den Kopf aufrecht halten oder geradeaus blicken. Ich fragte mich: ‹Wie soll das bloss gut kommen?› Aber schon als ich herabstieg, empfand ich es als befreiend für die Hüftgelenke. Im Rollstuhl sitzt man ja immer mit den Beinen eng zusammen.»

Bereits nach wenigen Therapiestunden verbessert sich ihre Rumpfstabilität. Sie sitzt gerade, blickt nach vorne, die Nackenschmerzen sind weg – und die Bewegungen des Pferdes gehen so nahtlos in ihren Körper über, dass sie dessen Takt aufnehmen kann: «Es ist, wie wenn zwei Gegenstände zu einem werden», sagt sie. «Es fängt bei der Hüfte an, die bei jedem Schritt mitwippt, und wandert bis zum Kopf hinauf.» Ihre Physiotherapeutin Samantha Wildi bestätigt: «Die Hippotherapie ist eine sehr umfassende Therapieform. Man arbeitet mit dem ganzen Körper – und auch die Psyche profitiert.» Mithilfe der Bewegungen des Pferderückens stärkt die Therapeutin Gleichgewicht und Muskulatur und verbessert die Beweglichkeit ihrer Patientin. Zudem hat die Hippotherapie einen beruhigenden Effekt auf den Körper: Die Bewegungen, die sich vom Pferd direkt auf Wirbelsäule und Rumpf übertragen, wirken regulierend auf den Muskeltonus.

«Das Pferd ist der Therapeut»

Während des Therapierundgangs achtet Samantha Wildi auf eine gerade Sitzposition und ausgeglichene Schultern. Ihre Hand liegt am Rücken der Patientin und spürt sofort, wenn diese ins Hohlkreuz fällt. «Eigentlich ist das Pferd der Therapeut», sagt sie. «Wir greifen nur ein, wenn wir etwas Besonderes korrigieren möchten oder eine Bewegung verstärken wollen.» Parallel zur Patientin achtet die Physiotherapeutin auf das Pferd: «Ich muss unsere Patientinnen und Patienten jederzeit auffangen können, wenn etwas passiert.» Im Eyhof in Nottwil, wo die Hippotherapie stattfindet, übt man regelmässig verschiedene Szenarien. Einen Ernstfall hat Samantha Wildi noch nie erlebt. Aber sie weiss, dass die betroffenen Menschen sich nicht selber schützen könnten: «Das braucht viel Vertrauen – auch ins ganze Team.»

Ein Pferd nimmt die Stimmung der Menschen auf seinem Rücken auf und spiegelt sie zurück. Damit sie auf dem Rundgang nicht einfach losrennen – etwa bei einer Spastik oder einem abrupten Zug am Zügel –, werden die Therapiepferde in Nottwil speziell ausgebildet.

Die Fachpersonen

  • Samantha Wildi Physiotherapeutin

    Samantha Wildi

    Physiotherapeutin
  • Rita Gnägi Pferdeführerin

    Rita Gnägi

    Pferdeführerin

Die Betroffenen sind dankbar

Die acht Islandpferde, die zur Therapie eingesetzt werden, haben ein ruhiges, bodenständiges Gemüt und sind für diese Arbeit besonders geeignet. Für ihre Ausbildung und ihr Wohl ist neben anderen Rita Gnägi zuständig. Auch als Pferdeführerin sorgt sie dafür, dass die gewünschten Therapieziele erreicht werden. Sie lässt das Pferd im Schritt gehen, anhalten, losgehen, Slalom laufen. Gleichzeitig blickt sie voraus, ob Geräusche, Fussgänger oder ungewohnte Gegenstände das Tier erschrecken könnten. «Das Pferd ist ein Fluchttier, es kann immer einen Sprung zur Seite machen», erklärt sie. «Ich muss es verstehen und seine Reaktionen managen.»

Wenn mir das Pferd vertraut, hat es keine Angst.

Rita Gnägi, Pferdeführerin

Dazu gehört, dass es die Pferdeführerin als Chefin akzeptiert. «Das Pferd will sicher sein, dass ich das Alphatier bin, und testet mich ab und zu», sagt Rita Gnägi. «Es drückt zum Beispiel mit der Schulter gegen mich oder es dringt in meinen Raum ein und schaut, ob es mich wegbugsieren kann.» Mit einer klaren und konsequenten Ansprache sei das jedoch schnell gelöst. Ihre Arbeit in Nottwil beschreibt sie als einmalig – vor allem die Dankbarkeit und Wertschätzung, die sie von den Patientinnen und Patienten erhalten, motivieren sie und das Eyhof-Team jeden Tag.

Nach Abschluss ihrer Rehabilitation verlässt Deborah Luternauer das Schweizer ParaplegikerZentrum nach neun Monaten und wird im Januar eine neue Schulklasse übernehmen. Die Hippotherapie hat ihr so viel gebracht, dass sie die Behandlung in ihrer Region ambulant weiterführen möchte. Bereits hat sie einen Hof gefunden, wo ihr Körper wieder eins werden kann mit den Bewegungen des Pferds.

Hippotherapie

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