
Ein Walliser Paar gibt Einblick in sein Leben zwischen Alltagshilfen und Therapiegeräten. Gemeinsam arbeiten die beiden an einem grossen Ziel.
Text: Stefan Kaiser
Fotos: Matteo Gariglio
Routiniert befestigt Hans Zenklusen die gelben und roten Elektroden an den Armen seiner Partnerin Manuela Ressouche, startet eines der elf Programme, regelt den Strom – und kurz darauf heben und senken sich ihre Unterarme vom Esstisch. Die Bewegungen werden von einem Gerät ausgelöst, das die Muskeln für die Handfunktion durch einen elektrischen Impuls stimuliert. Die 60-jährige ausgebildete Kellnerin hat diese Therapieform während ihrer zweiten Rehabilitation im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) schätzen gelernt. Seit wenigen Tagen ist sie wieder zu Hause in Raron (VS), wo sie die Therapie fortsetzt.

Therapiegeräte im Wohnzimmer
«Es ist unglaublich, welche Verbesserung diese vierwöchige Re-Reha in Nottwil gebracht hat», sagt Hans Zenklusen. «Vorher konnte Manuela ihre Hände nicht bewegen und ich musste ihr das Essen eingeben. Jetzt führt sie mit der linken Hand den Löffel selber zum Mund und kann sogar die Zähne putzen.» Für die hochgelähmte Frau ist es ein erster Schritt heraus aus der völligen Abhängigkeit.
«Hans motiviert mich, jeden Tag an meinem Körper weiterzuarbeiten», sagt Manuela Ressouche. Da ihre Tetraplegie inkomplett ist, also einzelne Nervenverbindungen in der Halswirbelsäule intakt geblieben sind, hofft das Paar auf weitere Fortschritte durch ein intensives Training. Das ambitionierte Ziel: eines Tages zwei, drei Schritte gehen zu können.
Die offensichtlichste Alltagshilfe, die Manuela Ressouche benötigt, ist der Elektrorollstuhl.
Dieses Ziel prägt den Alltag des Paars. Etliche Therapiegeräte füllen das Wohnzimmer ihres Hauses – Hilfsmittel für den Weg in die Selbstständigkeit. Hans Zenklusen erklärt: «Sie soll sich wohlfühlen, wenn sie ihr Programm absolviert. Das geht nicht in einer Abstellkammer.» Neben der 25-minütigen Elektrotherapie bewältigt Manuela Ressouche eine Stunde Bewegungstherapie auf dem Motomed, einem speziellen Hometrainer, den er auf E-Bay erworben und für sie umgebaut hat. Danach folgt eine Stunde auf dem Massagesessel. Zudem stehen verschiedene Vibrationsplatten bereit.
Doch für jede Anwendung muss Manuela Ressouche ihren Partner um Hilfe bitten, allein kann sie ihren Rollstuhl nicht verlassen. Er transferiert sie über sein Knie an den gewünschten Ort und bedient die Geräte. Ganz bewusst habe er in Nottwil diese Technik des Knietransfers gelernt, sagt Hans Zenklusen: «So muss sich Manuela jedes Mal selbst aufrichten, das stärkt ihre Bauchmuskeln.»

Ein ungewöhnliches Programm
Der Aufwand, den der 66-jährige Pensionär für seine Partnerin betreibt, ist enorm. Als ehemaliger EDV-Spezialist, Computerunternehmer und Motorrad-Trial-Sportler mit fünfzehn Schweizermeister-Titeln weiss er, wie man Hindernisse überwindet und ehrgeizige Ziele erreicht.
«Das Programm, das Manuela absolviert, ist sicher ungewöhnlich», sagt Svetlana Tsaytnits. Die Pflegefachfrau betreut die Tetraplegikerin mit ihrer eigenen Spitexfirma und notiert jeden Fortschritt. Dass ihre Klientin den Kopf wieder stabil hält, dass sie mit dem Oberkörper nach vorne kommen oder sich im Bett zur Seite drehen kann – für Aussenstehende sind solche Veränderungen kaum wahrnehmbar. Aber für das Pflegeteam sind es Meilensteine.
Einmal hatte Manuela Ressouche drei Tage lang unerklärliche Spastiken und konnte sich nicht bewegen. Schliesslich erkannte Svetlana Tsaytnits, dass sie sich zu sehr angestrengt und Muskelkater hatte. Die 48-jährige Pflegefachfrau aus Usbekistan, die seit 23 Jahren in der Schweiz lebt, teilt sich ihre Aufgaben mit Doreen Kresse von der kantonalen Spitex. Dazu zählen morgens und abends Körperpflege und Katheterisieren, nachmittags Katheterisieren, und am Abend zusätzlich die Kontrolle der Haut zur Dekubitus-Prophylaxe.
Auf die Frage nach den wichtigsten Alltagshilfen nennt Svetlana Tsaytnits zuerst das in alle Richtungen verstellbare Pflegebett: «Das Bett ist wichtig für die korrekte Lagerung und den Transfer in den Rollstuhl. Und es erleichtert unsere Pflegearbeit.»
Weitere wichtige Alltagshilfen sind die sterilen Einmalkatheter sowie der mobile Duschrollstuhl, der auch zur Darmentleerung benutzt wird.
«Die bedeutendste Alltagshilfe sind wir – und Zeit», ergänzt Doreen Kresse. Wenn sich Manuela Ressouche mit ihrer Unterstützung selbst die Zähne putzt, das Gesicht cremt oder im Bett zur Seite dreht, ist der Aufwand für die Spitex höher, als wenn die Pflegefachfrau solche Aufgaben selbst übernimmt. «Aber nur so gibt es Fortschritte, und das unterstützen wir trotz des Zeitdrucks», sagt die 44-Jährige, die vor 25 Jahren aus Jena ins Wallis kam.
In Momenten des Zweifels richtet sie die Energie ihres Lebenspartners wieder auf.
Alltagshilfen
87,3 %
der Menschen mit Querschnittlähmung benötigen Hilfsmittel.
32,7 %
der Personen mit Tetraplegie benutzen Hilfsmittel für die Handfunktion.
85,1 %
haben ihr Zuhause in mindestens einem Bereich umgebaut.
Der fatale Sturz
Gut zwei Jahre sind seit Manuela Ressouches Unfall im September 2021 vergangen. Sie weiss noch immer nicht, weshalb sie im Garten ein siebzig Zentimeter hohes Mäuerchen hinabstürzte. War es ein leichter Schwindel, wie er morgens manchmal vorkommt?
Damals bewirtschaftet das Paar ein Bergrestaurant am steilen Hang der Lötschberg-Südrampe oberhalb ihres Hauses. Zu den Attraktionen des Rarnerchumma Chrüterbeizlis zählen Alpakas, mit denen sie Trekking-Touren durchführen. Heute sind es ihre Haustiere.
Am Morgen des Unfalltags fährt Hans Zenklusen mit seinem Trial-Motorrad zum Restaurant hoch und wartet vergeblich, dass Manuela am Mittag zur Unterstützung kommt. Er telefoniert überall herum, ohne Ergebnis. Doch er muss oben bleiben, der Betrieb ist voller Gäste. Um 15 Uhr kann er endlich ins Tal fahren, wo er die Schwerverletzte im Garten findet.
«Die bedeutendste Alltagshilfe sind wir – und Zeit.»
Gleichzeitig mit dem Rettungshelikopter trifft die Polizei ein – und nimmt Hans Zenklusen mit. Bis 23 Uhr wird er befragt, ein unglaublicher Mordverdacht steht im Raum. Statt seiner Lebenspartnerin im Berner Inselspital beistehen zu können, darf er drei Tage lang nicht zu ihr und muss stattdessen bei der amtlichen Spurensuche mithelfen.
Am dritten Tag wird die Patientin für drei Wochen auf die Intensivstation des Schweizer Paraplegiker-Zentrums verlegt. In Nottwil verbringt sie weitere neun Monate zur Erstrehabilitation. Erst als sie nach rund fünf Monaten von der Polizei einvernommen werden kann, werden die Ermittlungen gegen ihren Partner eingestellt. Bald darauf beginnen die nervenaufreibenden Auseinandersetzungen mit den Versicherungen um Einstufungen und Fakten, die bis heute andauern. Kämpfen gehört zum Leben des Wallisers.

Der Traum vom Putzen
Im Juni 2022 kehrt Manuela Ressouche nach Raron zurück. Die offensichtlichste Alltagshilfe, die sie aus Nottwil mitbringt, ist der Elektrorollstuhl. Er gewährt Mobilität im häuslichen Umfeld. Weitere Strecken, etwa zum Einkaufen, kann sie noch nicht allein bewältigen. Was würde sie ohne ihren Rollstuhl machen? – «Zu Hause sitzen und auf den Tod warten», lautet die knappe Antwort der Tetraplegikerin. «Die Menschen vergessen einen, wenn man keine Beziehungen mehr nach draussen hat.»
Am Anfang hat sie sich oft gefragt, ob das alles noch einen Sinn hat. Aber in Momenten des Zweifels richtet die Energie ihres Partners sie wieder auf. Manuela Ressouche sagt: «Ich habe mich noch nicht damit abgefunden, dass ich immer im Stuhl sitzen bleibe. Deshalb trainiere ich jeden Tag.» Sie möchte in den aktiven Alltag zurück, das grosse Ziel sind gemeinsame Reisen. Sie träume aber auch von alltäglichen Dingen: «Ich möchte mal wieder etwas in der Küche machen oder das Haus putzen, nicht nur anderen bei der Arbeit zuschauen.»
Manuela Ressouche ist in Dresden aufgewachsen und lebt seit 1990 im Wallis. In der DDR war es für sie üblich, immer alles selbst zu erledigen oder kreative Lösungen für fehlende Produkte zu finden. Jetzt muss sie für jeden kleinsten Handgriff um Hilfe rufen, das belastet. «Es wäre schön, wenn ich mich wenigstens selber anziehen und katheterisieren könnte», sagt sie. Sie würde auch gerne wieder ein Buch lesen. Aber ihre Hände können noch nicht umblättern und auch die Brille auf- und abzusetzen ist für sie ein unüberwindbares Hindernis.
«Ich habe mich noch nicht damit abgefunden, dass ich immer im Stuhl sitzen bleibe. Deshalb trainiere ich jeden Tag.»

Kleine Fluchten
Andere Personen würden sich von der Spitex rundum betreuen lassen, sagt Pflegefachfrau Svetlana Tsaytnits. «Manuela dagegen bleibt nicht in der Komfortzone. Sie kämpft für mehr Lebensqualität.»
Ohne ihren Partner ginge das alles nicht. Er hat sich in Nottwil tief ins Thema eingearbeitet, war bei den Therapien dabei, gab ihr drei Mal täglich das Essen ein. «Ich möchte Manuela helfen, so rasch wie möglich auf die Beine zu kommen. Sonst bleibt sie lebenslang ein Pflegefall», beschreibt er seine Motivation. Zweimal in der Nacht steht er auf, übernimmt das Katheterisieren und lagert sie zur Vermeidung von Druckstellen um. Auch für den pflegenden Angehörigen wäre es schön, wenn sie es eines Tages selbstständig könnte.
2023 bestritt Hans Zenklusen zwanzig Trial-Wettkämpfe, Geschicklichkeitsprüfungen im Gelände, die eine hohe Motorradbeherrschung voraussetzen. Manuela Ressouche war im Camper dabei und integriert in die Gemeinschaft der Sportler – etwa in Italien, wo nach den Rennen stundenlange Essen anstehen. Solche Erlebnisse sind für sie kleine Fluchten, Erinnerungen an ihre zahlreichen Weekend-Ausflüge. Damit sie künftig unterwegs mehr Platz haben, hat er einen Anhänger gekauft, in den er jetzt noch das Bett einbaut.
Auch zu Hause muss Hans Zenklusen noch viel umbauen. Das Bad zum Beispiel. Wände müssen raus, automatische Türen installiert und die Rollstuhlgängigkeit ums Haus verbessert werden. Und er plant ein unterfahrbares Hochbeet, damit Manuela gärtnern kann – und eine zusätzliche Therapie für die Hand hat.
Im Garten soll auch eine Wohlfühloase samt Whirlpool, Sauna und Solarium entstehen. Vor dem Unfall machten sie gerne Wellnessferien in Osteuropa. «Wenn man nicht mehr so weit fortkommt, muss man es eben zu Hause geniessen», sagt er.
Zwischen Wohnzimmer und Wintergarten steht schon die Zukunft: eine fahrbare Stehhilfe. Hans Zenklusen hat sie gebaut, damit sie für alle Fälle bereit ist. «Damit kann Manuela stabil stehen und erste Schritte versuchen», sagt er. Ob sie das Gerät je wird nutzen können, weiss er heute noch nicht. Aber eines weiss er: Man muss sich Ziele setzen, wenn man etwas erreichen will.
Für Manuela Ressouche ist die Unterstützung ihres Lebenspartners die wohl wichtigste Alltagshilfe.
Die wichtigsten Mobilitätshilfen für Menschen mit Querschnittlähmung in der Schweiz.
78,2 %
umgebautes Auto
69,9 %
manueller Rollstuhl
14,0 %
Elektrorollstuhl
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