Der lange Weg nach Hause
Was geschieht bei der Erstrehabilitation eines Menschen mit Querschnittlähmung am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil? Guillaume Girolamo gibt Einblicke in seinen intensiven Therapiealltag.
Text: Stefan Kaiser
Foto: Sabrina Kohler, «Paraplegie» 2/2024
Allein das Zusehen löst Emotionen aus. Guillaume Girolamo versucht mit aller Anstrengung, seinen Arm am Griff des Rollstuhls einzuhängen, um den Transfer ins Bett zu üben. Doch immer wieder scheitert der 27-jährige Walliser knapp. Seine Physiotherapeutin gibt ihm klare Anweisungen, motiviert ihn und achtet darauf, dass er sich nicht überfordert. Schliesslich zwingt die Spastik die beiden zum Abbruch des Transfer-Trainings. Morgen, in der nächsten Therapiestunde, werden sie es wieder versuchen.
«Beim ersten Mal ist es sehr anstrengend», erklärt Physiotherapeutin Selin Schmidt. «Beim fünfzigsten Mal vielleicht auch noch. Aber ab einem gewissen Punkt wird der Transfer für ihn selbstverständlich.» An solchen Meilensteinen der Rehabilitation arbeitet die 30-Jährige oft wochenund monatelang mit ihren Patientinnen und Patienten am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil. Es sind Voraussetzungen für den Weg zurück ins eigene Leben. Sie geben den Ausschlag, ob ein Mensch mit Querschnittlähmung ins Pflegeheim muss oder wieder selbstständig wohnen und einer Arbeit nachgehen kann.
Dranbleiben, ans Leben denken
Im Juni 2023 verunfallt Guillaume Girolamo bei der Rallye du Chablais. Der Junioren-Schweizermeister verletzt dabei sein Rückenmark auf Höhe der Halswirbelsäule und erleidet eine Tetraplegie. Sein Co-Pilot Benjamin Bétrisey zieht sich nur einen verstauchten Knöchel zu. «Darüber bin ich sehr froh», sagt Guillaume Girolamo. «Wenn heute er im Rollstuhl sitzen würde, wäre es für mich schlimmer.»
Der Rallyefahrer aus Nendaz wird am Lausanner Universitätsspital operiert und direkt nach Nottwil verlegt. Die ersten Monate sind hart. Medizinische Rückschläge belasten ihn, er kann das Bett selten verlassen, die Behandlungen fokussieren auf seine Haut, das Atmen, die Hände. Als er endlich an seinen Bewegungen arbeiten kann, schlägt er bewusst ein hohes Tempo an. «Ich gebe mein Maximum, um am Ende der Rehabilitation eine möglichst grosse Autonomie zu erreichen», sagt er. Und mit einem Lächeln: «Das ist zwar anstrengend, aber nur so kommt man vorwärts.»
Dranbleiben, ans Leben denken, weitermachen. Die Therapien füllen seinen Tag vollständig aus. Etappe für Etappe freut er sich über jeden Erfolg. Sich selbst die Zähne putzen oder ohne fremde Hilfe essen können – es sind kleine Dinge, die den Alltag eines Menschen mit Querschnittlähmung erleichtern. Der einzige Wermutstropfen: Die Fortschritte benötigen mehr Zeit, als er denkt. Geduld wird für Guillaume Girolamo zur Herausforderung, besonders nach Rückschlägen.
Hohes Fachwissen, kurze Wege
Die Rehabilitation am SPZ zielt darauf ab, dass Menschen mit einer Querschnittlähmung lernen, wieder möglichst selbstständig zu leben. «Wir berücksichtigen in der paraplegiologischen Rehabilitation alle Faktoren, die für die Wiedereingliederung der Betroffenen relevant sind», sagt Diana Sigrist-Nix, die Leiterin der medizinischen Dienste. Neben den körperlichen Einschränkungen sind das auch Themen wie die soziale und berufliche Integration.
Die einzelnen Behandlungsphasen sind deshalb eng miteinander verzahnt, und viele Abklärungen geschehen parallel. Zudem endet die umfassende Rehabilitation nicht mit dem Austritt aus der Klinik, sie dauert vielmehr ein Leben lang.
Fokus auf den Alltag
Der Fokus der Ergotherapie liegt mehr auf dem Einsatz der Arme und Hände in Alltagsaktivitäten. «Wir bringen den Patientinnen und Patienten alles bei, um ihren Alltag im Rollstuhl zu bewältigen», sagt Ergotherapeutin Isabel Steiner. Es geht um praktische Tätigkeiten: wie man sich mit gelähmten Armen und Beinen anzieht, wie man Türen öffnet, einkauft oder kocht.
In Isabel Steiners Zuständigkeitsbereich fällt die Hilfsmittelversorgung. Mit Guillaume Girolamo hat sie den passenden Rollstuhl ausgewählt und die Abklärungen für ein Elektrozuggerät und das Autofahren gemacht. In seiner Berggemeinde könnte sich der Tetraplegiker sonst nicht allein fortbewegen – sei es zur Arbeit, in die Therapie oder zum Einkaufen. Die Tests und Trainings ergaben, dass eine Operation am Arm notwendig ist.
«Megaschöne Zusammenarbeit»
Mit Guillaume Girolamo fuhr die Ergotherapeutin ins Wallis, um mit Architektur-Fachleuten der Schweizer Paraplegiker Vereinigung seine Wohnung und den Arbeitsplatz abzuklären. Dies geschieht während der Rehabilitation, damit die Umbauten fertig sind, wenn er die Klinik verlässt. «Für unsere Patientinnen und Patienten ist es oft der erste Besuch zu Hause – mit allen Emotionen», sagt Isabel Steiner.
Bei Guillaume Girolamo wurde zusätzlich eine Umfeldsteuerung nötig, damit er Türen, Storen und Licht per Handy bedienen kann. Dazu hat sie gleich einen Berater von Active Communication hinzugezogen, einer anderen Tochterfirma der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Sie schwärmt: «In der ganzen Gruppe ist ein riesiges Fachwissen vorhanden. So entsteht eine megaschöne Zusammenarbeit.»
Der Flughafen als Abenteuer
«Dass ich nie wieder gehen werde, habe ich erst nach vier bis sechs Wochen richtig verstanden», sagt Guillaume Girolamo, «aber die Hoffnung blieb viel länger.» Der junge Mann ist froh, dass ihn am SPZ über viele Monate hinweg die gleichen Therapeutinnen betreuen: «Man sieht sich täglich, lernt sich kennen und baut Vertrauen auf.» Am Anfang stellte er viele Fragen, ob die angestrebten Ziele tatsächlich erreichbar sind. «Jetzt habe ich keine Zweifel mehr. Meine Therapeutinnen motivieren mich, damit ich das Maximum aus mir heraushole. Mir gefällt diese Haltung – ich habe im Sport die gleiche.»
Dabei wird auch gemeinsam gelacht. «Wir haben viele coole Sachen zusammen erlebt», sagt Physiotherapeutin Selin Schmidt. Zum Beispiel im Rahmen ihrer monatlichen Learning-by-doing-Exkursionen. So nimmt sie ihn schon früh mit einer Patientengruppe zum Flughafen Zürich mit, um anspruchsvolle Aufgaben in der Öffentlichkeit zu lösen. Für den Tetraplegiker ist es ein Abenteuer. Er schmunzelt: «Ich war noch nie ausserhalb des SPZ – und einfach froh, endlich mal rauszukommen…»
Szenen aus dem Therapiealltag
Grosse Unterstützung der Familie
Ein anderer Meilenstein ist das erste Mal im Handrollstuhl. Der klobige Elektrorollstuhl, auf den er die ersten Monate angewiesen ist, stört ihn sehr – etwa beim gemeinsamen Essen mit Angehörigen und Freunden: «Ich bin seit zehn Monaten in Nottwil und hatte praktisch jeden Tag Besuch – das ist phänomenal.» Die Grosseltern, die Eltern, seine Freundin oder Sportkollegen nehmen drei Stunden Anreise auf sich, um ihn in der Deutschschweiz zu sehen. «Für meine Moral ist das entscheidend», sagt der Familienmensch. «Ich habe noch nie eine Situation der Verzweiflung erlebt.»
Am SPZ ist Sport ein fester Bestandteil der Rehabilitation. Er fördert die Kräftigung und das bessere Handling des Rollstuhls, er bietet soziale Kontakte und bereitet auf die Zeit nach dem Austritt vor. Guillaume Girolamo nutzt das Angebot gerne: «Die breite Sportpalette hat mir gezeigt, dass ich viel mehr erreichen kann, als ich zunächst dachte. Sport bringt Abwechslung in den Therapiealltag und ich tausche mich dabei mit den Peer-Kollegen auch über Tipps und Tricks aus.»
Operation bringt neue Freiheiten
Die Peers in der Klinik und die Therapeutinnen nehmen ihm auch seine Befürchtungen vor der Operation, die nach acht Monaten gleichzeitig an beiden Armen stattfindet. Dabei wird durch Transfer des hinteren Deltamuskels an der Schulter die Ellbogenstreckung rekonstruiert. «Ohne Ellenbogenstrecker sind die Betroffenen im Alltag stark limitiert», erklärt Silvia Schibli, die Chefärztin der Handchirurgie. «Sie können nicht einmal selbst in eine Jacke schlüpfen.» Nach ihrem Eingriff haben Guillaume Girolamos Arme einen grösseren Bewegungsradius, sind stabiler und ermöglichen neue Freiheiten. «Es ist eine komplizierte Operation, die aber sehr zuverlässig ist und so viele Vorteile bringt, dass sie sich unbedingt lohnt», sagt die Chefärztin.
Guillaume Girolamo erhofft sich, dass dadurch der Transfer einfacher gelingt, er den Rollstuhl besser manövrieren kann – und dass das Autofahren wieder möglich wird. Denn Mobilität ist für sein weiteres Leben eine wichtige Voraussetzung. Nach seinem Austritt aus der Klinik möchte er rasch die Büroarbeit in der Garage seines Vaters wieder aufnehmen. «Mein Ziel ist, meinen Ort zu Hause wieder zu finden – in der Familie, im Berufsleben, in meiner Beziehung.» In die fertig umgebaute Wohnung wird er mit seiner Partnerin einziehen. Sein typisches Lächeln muss er nicht neu lernen. Das hat er über die Monate in Nottwil behalten.
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