Simulationszentrum – Wenn Puppen sprechen und schwitzen
Das Schweizer Institut für Rettungsmedizin Sirmed betreibt in Nottwil ein modernes Simulationszentrum. Fachkräfte aus der ganzen Schweiz bereiten sich darin unter realitätsnahen Bedingungen auf Notfälle vor.
Text: Elias Bricker
Bilder: Beatrice Felder
Gequält sitzt der Patient auf dem Sofa im Wohnzimmer, klagt über starke Schmerzen in der Brust. Zwei Rettungssanitäter sind eingetroffen: «Herr Barmettler, wo tut es genau weh?», fragt Jürgen Reichl. Seine Kollegin Jennifer Stitz misst unterdessen mit einer Manschette den Blutdruck und verkabelt den Patienten mit dem EKG-Gerät. Die Zeit drängt: Die Helfer vermuten, dass der Patient einen Herzinfarkt erlitten hat. «Haben Sie die Schmerzen schon lange?», fragt Reichl. Herr Barmettler fällt das Reden schwer: «Nein, erst seit heute, erst seit dem Morgenessen.» Solche Situationen sind für Rettungssanitäter Alltag. Doch für einmal ist der Notfall nur eine Übung, der Patient eine Puppe.
Übungen mit Videoüberwachung
Letzten Herbst hat das Schweizer Institut für Rettungsmedizin Sirmed auf dem Campus Nottwil zwei hochmoderne Simulationsräume eröffnet. Dort können Fachkräfte Notfälle realitätsnah durchspielen – ähnlich wie das Piloten in einem Flugsimulator machen. Die Räume lassen sich als Operationssaal, Intensivstation, Schockraum oder Wohnzimmer einrichten. Sie sind mit den neuesten Geräten ausgestattet, mit denen die Fachkräfte auch im Alltag arbeiten. Die einzelnen Übungen werden zudem mit festinstallierten Videokameras aufgezeichnet und anschliessend mit allen Beteiligten analysiert.
Simulationen im Rahmen von Aus- und Weiterbildungen gehören in der Medizin seit vielen Jahren zum Standard, in der Schweiz gibt es aber nur ein halbes Dutzend Simulationszentren auf diesem technischen Niveau. Die meisten werden von grösseren Spitälern betrieben, um die eigene Belegschaft zu schulen. «Doch längst nicht jedes Spital kann sich eine solche Infrastruktur leisten», sagt der Sirmed-Geschäftsführer Helge Regener. In Nottwil hat auch das Personal von kleineren und mittleren Schweizer Spitälern und Rettungsorganisationen die Möglichkeit, Simulationskurse durchzuführen. Sie können die Infrastruktur für bestimmte Zeiten mieten oder die Kurse der Sirmed besuchen.
Allergische Reaktion per Computer
Während die Rettungssanitäter Herrn Barmettler im Wohnzimmer versorgen, sitzen die beiden Übungsleiter im Nebenraum und beobachten das Geschehen durch eine verspiegelte Glasscheibe – ähnlich wie bei einem Polizeiverhör. «Da die Teilnehmer uns nicht sehen können, vergessen sie oft, dass wir zuschauen», sagt Regener. «Dadurch wird die ganze Übung realistischer und der Lerneffekt ist grösser.» Im Nebenraum steuern die Übungsleiter das Szenario. Sirmed arbeitet mit Hightech-Puppen. Diese können schwitzen, atmen, bluten und ihre Pupillen reagieren sogar auf Lichtreize. Per Computer löst der Übungsleiter zum Beispiel eine allergische Reaktion der Puppe aus oder jagt den Puls in die Höhe, wenn sie das falsche Medikament bekommt. «So können wir die Teilnehmer bewusst Stresssituationen aussetzen und sie an ihre Grenzen bringen», erklärt Regener. Gleichzeitig gibt der Übungsleiter per Mikrofon der Puppe eine Stimme. Damit die Situation möglichst realistisch wirkt, muss er ein gewisses schauspielerisches Talent mitbringen.
Jubel hinter der Glaswand
Das EKG-Gerät piepst regelmässig. Der künstliche Patient wird für den Transport mit der Ambulanz bereit gemacht. «Herr Barmettler, nehmen Sie Blutverdünner oder benutzen Sie ein Potenzmittel? », fragt Rettungssanitäter Reichl. «Ich würde Ihnen sonst gerne ein Medikament geben, das die Schmerzen nimmt.» Der Patient reagiert forsch: «Das ist Privatsache!» Der Rettungssanitäter kontert: «Sie müssen mir schon sagen, wenn Sie ein Potenzmittel nehmen, sonst darf ich Ihnen das Medikament nicht geben.» Die Übungsverantwortlichen hinter der Glasscheibe klatschen. «Yes!», ruft Ausbildnerin Barbara Hunziker. «Genau das wollte ich hören. Gut gemacht.» Helge Regener spielt über die Lautsprecher einen Musik-Jingle ein und sagt durchs Mikrofon: «Wir brechen hier ab. Danke für euren Einsatz. Wir treffen uns in zehn Minuten zur Nachbesprechung.»
Sicherheit dank Training
Die beiden Rettungssanitäter sind zufrieden. «Ich denke, im Grossen und Ganzen haben wir die Übung gut gemeistert», sagt Jürgen Reichl. Jennifer Stitz ist nicht restlos zufrieden: «Einige Details müssen wir bei der Nachbesprechung aber noch genauer anschauen.» Die Studierenden Stitz und Reichl stehen kurz vor ihrer Abschlussprüfung. Ihre praktische Ausbildung absolvieren die beiden angehenden Rettungssanitäter bei der Organisation, bei der sie angestellt sind. Der schulische Teil findet in Nottwil statt. Denn Sirmed ist auch eine Höhere Fachschule. Pro Jahrgang werden rund zwanzig diplomierte Rettungssanitäter HF ausgebildet. «Solche Simulationsübungen sind extrem wertvoll», sagt Jürgen Reichl. «Sie geben mir Sicherheit. Dadurch bleibe ich im Ernstfall ruhiger und mache weniger Fehler.» Übungen können die Patientensicherheit entscheidend erhöhen, bestätigt auch Sirmed. Um alle Rettungsschritte vom Unfallort bis in den Operationssaal realistisch durchzuspielen, finden viele Übungen ausserhalb der Simulationsräume statt – auf der Sportanlage, in der Tiefgarage, im Wald. Zudem besitzt Sirmed ein 1:1-Modell eines Rega-Helikopters, ein Ambulanzfahrzeug sowie einen Personenwagen für die Simulation von Verkehrsunfällen.
Notfall beim Grillieren
Im Aussenbereich üben zwei andere Studierende das nächste Szenario. Sie haben bei ihrer Alarmierung die Information bekommen, ein Mann hätte sich im Garten beim Grillieren verbrannt. Am Einsatzort stellt sich schnell heraus: Der Verunfallte – wieder eine Puppe – hat mit Brennsprit hantiert und dabei starke Verbrennungen erlitten. Eine Schwellung am Hals behindert die Atemwege, der Patient droht zu ersticken. Deshalb benötigt er eine Intubation, einen Schlauch durch Mund und Luftröhre in die Lunge. Zudem muss er schnellstmöglich abtransportiert werden. Die beiden Rettungssanitäter arbeiten speditiv, ihre Handgriffe sitzen. Fix installierte Kameras filmen die Übung, die anderen Studierenden verfolgen das Szenario live im Kursraum.
Missverständnisse aufdecken
Zehn Minuten später sitzen wieder alle zusammen im Schulzimmer. «Die Nachbesprechung ist das A und O jeder Übung», sagt Geschäftsführer Helge Regener. «Aber auch in der Realität ist es wichtig, dass die Rettungsteams ihre Einsätze nachbesprechen.» In der Feedback-Runde schauen sich die Studierenden gewisse Szenen der Übung nochmals an. Das Video zeigt: Die beiden angehenden Rettungssanitäter haben vieles richtig gemacht und am Einsatzort strukturiert miteinander geredet. «Wir bekamen vorab nur wenige Infos zum Unfall. Doch wir haben bereits auf dem Weg zum Einsatzort mögliche Szenarien besprochen», sagt der erste Übungsteilnehmer. «Deshalb konnten wir dann schnell reagieren.»
Das Video zeigt aber ebenso schonungslos die Fehler. «Halt! Wir haben da völlig aneinander vorbeigeredet», sagt plötzlich der andere Teilnehmer. «Und das Verrückte daran: Wir haben das nicht einmal bemerkt.» Beiden war vor Ort klar, dass der Patient schnellstmöglich ins nächstgelegene «Zentrum» zu transportieren sei, am besten per Helikopter. Doch während der erste Rettungssanitäter das regionale Zentrumsspital im Visier hatte, meinte der andere ein spezielles Verbrennungszentrum in einem grösseren Spital. «Ihr müsst präziser miteinander reden», sagt eine Teilnehmerin im Plenum. «Es wäre verheerend, wenn beim Einsatz der Helikopter ins falsche Zentrum fliegt und dort niemand bereit steht, um den Patienten zu versorgen.»
Kommunikation im Zentrum
Inzwischen bespricht auch die Gruppe mit dem Herzinfarkt-Patienten ihren Einsatz. Das Feedback der Mitschüler fällt durchwegs positiv aus. Umso strenger sind die beiden Übungsteilnehmer mit sich selber. «Wir haben eigentlich gut miteinander kommuniziert. Du hast mich immer aufdatiert, was du gerade gemacht hast oder was du im Gespräch mit dem Patienten herausgefunden hast», sagt Jennifer Stitz. «Doch ich kann dir schlecht zuhören, wenn ich das Stethoskop in den Ohren habe. Wir müssen uns in Stresssituationen gezielt Zeit nehmen, um zu kommunizieren. Sonst reden wir aneinander vorbei.» Genau darin besteht der Kern dieser Simulationsübungen: Häufig stehen nicht die medizinischen Fertigkeiten und das Wissen der Teilnehmer im Vordergrund, vielmehr geht es um das Situationsbewusstsein, die Entscheidungsfindung, die Kommunikation und die Teamarbeit.
Denn Fehler in Krisensituationen entstehen oft aufgrund von mangelnder Koordination, Zusammenarbeit und Kommunikation. «Eine funktionierende Teamarbeit und eine gute Kommunikation können Leben retten», sagt Sirmed-Chef Regener. In den hochmodernen Simulationsräumen in Nottwil können jetzt alle medizinischen Kräfte daran feilen.
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